Full text: Sächsische Volkskunde.

Ed. O. Schulze: Verlauf und Formen der Besiedelung des Landes. 87 
So drängte die ganze Lage hin auf Abfluß der überschüssigen Kräfte 
und der jüngeren Söhne, entweder in die zu jener Zeit aufblühenden Städte 
oder in die Kolonialgebiete des Ostens. 
Endlich ist auch der Einfluß jener mächtigen Bewegung, die im 12. Jahr- 
hundert von Westen her Deutschland ergriff, nicht zu unterschätzen. Wander- 
lust und Sinn nach Abenteuern stieg, und leicht löste man sich vom heimi- 
schen Herde, um im fernen Heidenlande Heil der Seele und vielleicht auch 
Güter der Welt zu suchen. Der Bauer, der mit Hab und Gut ins Wenden- 
land fuhr, mochte auch in seiner Brust ein Stück fühlen von dem, was in 
wundersamer Mischung von Glaubenseifer und Weltsinn das Herz des Kreuz- 
fahrers schwellte. Und der Kreuzzug gegen die Wenden, obwohl seine Erfolge 
den Voranstalten und der Erwartung wenig entsprachen, wurde doch für die 
Kolonisierung des Ostens von weitreichender Bedeutung. 
Kein Wunder also, daß jetzt die Boten und die Rufe der Fürsten und 
Herren aus dem Wendenlande weit hinaus im Reiche williges Ohr und 
gläubigen Sinn fanden. Tausende zogen frischen Mutes und freudiger Hoff- 
nung voll gen Osten, wo Land in Menge und Freiheit ihnen winkte. So 
wurde damals der Osten, wie in neuerer Zeit der ferne Westen, das Land 
der Sehnsucht und der Träume, für den Bauer nicht minder wie für die 
nachgeborenen Söhne des Adels. Hier suchte man nicht nur Abenteuer, Ehre 
und Ruhm, sondern vor allem behäbigen Sitz auf eigener Scholle, größere 
Freiheit der Bewegung, höhere soziale Geltung.) 
Und nicht mit leeren Händen kamen sie. Wie noch heute der größte 
Teil der ländlichen Auswanderer aus den tüchtigsten und meist auch nicht 
ganz unbemittelten Elementen sich zusammensetzt, die in der Heimat wirt- 
schaftlich und sozial zu beengt sich fühlen, so auch damals. Unternehmungs- 
lust, Thatkraft und reiche Erfahrung, bei dem Ausbau daheim gewonnen, 
brachte man mit; und auch an äußeren Mitteln durfte es nicht gänzlich 
fehlen. Die harte Arbeit des Rodens versprach erst nach Jahren Erfolg, 
erforderte aber von Anfang an die Einsetzung der ganzen Kraft und die 
Aufwendung immerhin nicht geringen Kapitals an Lebensmitteln, Gerätschaften 
und Einrichtung, und oft auch an barem Gelde. 
u) Die Herkunft der Kolonisten. 
In ihrer Hauptmasse kamen die Kolonisten unseres Landes aus den be- 
nachbarten thüringischen, fränkischen und sächsischen Gegenden. Darauf weisen 
Mundart und Sagenwelt, Recht und Sitte, Hausbau, Wirtschaftsweise und 
*) Vgl. das vlämische Auswanderungslied, angeblich aus dem 12.—13. Jahrhundert: 
„Naer Oostland willen wy ryden, naer Oostland willen wy mee, al over die groene 
heiden, frisch over die heiden! daer isseren betere steée“ u. s. w. bei J. F. Willems, 
Oude vlaemsche Liederen, Gent 1848, S. 35.
	        
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