6 Die Vorgeschichte des Reiches.
liche Elend nicht. Der Staatsgedanke zwar blieb unentwickelt,
für die Gesamtheit sowohl wie in den einzelnen Gebilden.
Mit einer großen Ausnahme; davon sofort. Auch das wirt—
schaftliche Leben blieb kümmerlich. Einzelne große Ansätze zwar
verzeichnet nach dieser letzteren Richtung die Geschichte: vor
allem das große Ruhmesblatt deutscher Energie und deutschen
kaufmännischen Unternebmungsgeistes, die Bansa. Und wenn
wir hBeute unsere Gedanken über diese wirtschaftlichen Dinge
konzentrieren einerseits auf die kolossale wirtschaftliche Entwicke-
lung von Frankreich, England, Holland im 16., I7. und
18. Jahrh#undert, andrerseits auf die Großartigkeit unserer
deutschen wirtschaftlichen Entwickelung, insbesondere auch der
beiden großen Seehandelsplätze der alten Hansa an der Nordsee,
seit 1866 — dann erst erkennen wir mit voller Klarheit, was
wir Jahrhunderte lang nicht nur staatlich, sondern auch wirt-
schaftlich entbehren mußten, bevor das ostelbische Hreußen den
deutschen Staat geschaffen hRatte.
Aber zugegeben muß werden, daß in jenen kleinen staat-
lichen Gebilden Kunst und Wissenschaft sich vielfach glänzend
entfalteten; die Kunstsammlungen in den kleinen deutschen Resi-
denzen, die Universitäten selbst in kleinen deutschen Staaten geben
davon noch heute Seugnis; und welcher Deutsche könnte je das
Weimar Schillers und Goethes vergessen d Und zwischen Fürsten
und Dolk entwickelten sich doch vielfach patriarchalische Ze-
ziehungen von großer Festigkeit, die heute noch segensreich nach-
wirken. Die Tradition der Jahrkunderte gab den Fürstenhäusern
mancher deutscher Länder einen seber festen Grund, der sie die
Stürme des 10. Jahrhunderts leichter überdauern ließ, als dies
anderwärts der Fall war. Im ganzen fühlte sich der politisch
noch ganz unerzogene Deutsche behaglich in seinem phbilisterhaften
kleinen staatlichen Heim und war schon zufrieden, wenn er aus
dieser philisterhaften Beschaulichkeit nicht durch fremde Beere
unsanft aufgerüttelt wurde.
Diese Art Hartikularismus liegt ganz unverkennbar tief im
deutschen Wesen, und seit das Reich mit starker gewappneter
Faust dafür sorgt, daß nicht mehr fremde Eroberer diesen
Dartikularismus zum Schaden des Dolkes ausbeuten können, ist,
wenn ich recht sehe, dieser Hartikularismus leider wieder mächtig
ins Kraut geschossen; der deutsche Phkilister vergißt wieder, wie
viel Jammer und ESlend einst die Folge dieses Hartikularismus