I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 87
und, wenn sie in einzelnen Bestimmungen sich nicht als ausreichend erweisen, ergänzt
werden.
Eingewaltsames Vorgehen gegen die Sozialdemokratie kommt ohne weiteres in Frage,
wenn es durch einen etwaigen gewaltsamen Ausbruch der sozialdemokratischen Bewegung
herausgefordert wird. Das aber ist kaum anzunehmen und ist unwahrscheinlich, wenn
die Regierung ihre Aufgabe gegenüber der sozialdemokratischen Bewegung mit Geschick
anfaßt und mit Energie durchführt. Es gibt Politiker, die meinen, es wäre kein Unglück,
wenn es zu einem gewaltsamen Ausbruch käme, weil sich dann die Möglichkeit bieten
würde, den gordischen Knoten der sozialistischen Frage mit dem Schwerte zu durchhauen
und so eine endgültige Lösung zu schaffen. Sollte die Sozialdemokratie unklug und zu-
gleich verbrecherisch genug sein, zu offener Auflehnung überzugehen, so müßten natür-
lich alle Rücksichten und alle Bedenken schweigen vor der Notwendigkeit, die Funda-
mente unseres staatlichen und kulturellen Lebens zu verteidigen. Eine solche Entwick-
lung aber herbeizuwünschen, ist sehr kurzsichtig. Ich habe mich einmal im Reichstag
darüber ausgelassen, was von einer Politik zu halten ist, die im eigenen Lande eine ge-
waltsame Entladung herbeiwünscht oder gar fördert in der Hoffnung, dann durch ge-
waltsame Unterdrückung zu besseren Zuständen zu kommen. Politigue de la mer
rouge wurde sie in Frankreich vor 40 Jahren genannt. Man sollte das Rote Meer durch-
schreiten, um ins gelobte Land zu gelangen. Es liegt nur leider die Gefahr sehr nahe,
daß man im Roten Meer ertrinkt und das gelobte Land niemals erreicht. Ein großer
Teil der französischen Monarchisten operierte nach diesem Rezept, als die Vorzeichen
der großen Revolution sich mehrten. Anstatt sich mit den Gemäßigten zu verständigen,
verfolgten sie gerade diese mit intensiver Abneigung und zogen vor, indirekt die extremen
Elemente zu begünstigen in der Hoffnung, dadurch die Sündflut herbeizuführen, nach
der dann ihr Weizen blühen würde. Die Sündflut kam, aber der Weizen blühte nicht.
Der Versuch, in der Politik den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, ist sehr selten ge-
lungen.
Deutschland ist kein Land für Staatsstreiche. Kein Volk der Welt besitzt ein so starkes
Rechtsbewußtsein wie das deutsche. ##rgends erzeugt ein Bruch des Rechts, des gemeinen
wie des öffentlichen, so leidenschaftliche Entrüstung und wird so schwer vergessen wie bei
uns. Die Abneigung der meisten deutschen Parteien gegen Ausnahmegesetze und Aus-
nahmemaßregeln ist auch zurückzuführen auf ihre eingeborene Scheu, das Recht zu ver-
letzten. Der Franzose ist in diesem Punkte weniger empfindlich. Der Terrorismus der
großen Revolution wird ihr noch heute von ihren Anhängern zum Ruhm angerechnet.
Wenn Thiers im 7. Bande seiner Geschichte der französischen Revolution auf die
Schreckensherrschaft des Konvents zurürckblickt, so schließt er mit den Worten: „Le sou-
venir de la Convention nationale est demeuré terrible; mais pour elle il y a qu'un
fait à alléguer, un seul, et tous les reproches tom bent devant ce fait immense: elle
nous a sauvés de Pinvasion éCtrangère.“ Herr Clémenceau meinte, man müsse die
Revolution mit allen ihren Exzessen und Rechtsbrüchen en bloc nehmen, als Ganzes
gelten lassen. Der Staatsstreich des ersten Napoleon geriet in Vergessenheit, als die
Sonne von Austerlitz über dem Kaiserreiche aufging. Auch Napoleon III. wurde an den
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