Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
94 Innere Politik I. Buch. 
  
solange sie in Preußen bekämpft wird. Auf der anderen Seite würde der Versuch einer 
Verständigung, den die Reichsregierung unternimmt, denselben verwirrenden und zer- 
rüttenden Einfluß auf Preußen haben wie ein gleicher Versuch in Preußen selbst. Wird 
im Reich ohne Rücksicht auf Preußen regiert, so muß dadurch in Preußen Reichsverdrossen- 
beit großgezogen werden. Wird in Preußen ohne Rücksicht auf das Reich regiert, so besteht 
die Gefahr, daß im nichtpreußischen Deutschland Mißtrauen und Abneigung gegen den 
führenden Bundesstaat um sich greifen. Es ist für Preußen immer verhängnisvoll gewesen, 
wenn notwendige Reformen nicht rechtzeitig, d. h. solange sie in maßvoller Form möglich 
waren, vorgenommen, sondern kurzsichtig und hartnäckig verweigert wurden, bis sie 
schließlich, durch die Verhältnisse erzwungen, in radikalerer Form durchgeführt werden 
mußten. Die Kunst des Regierens wird sich bei uns immer darin am meisten zu betätigen 
haben, daß die Harmonie zwischen Preußen und Deutschland nicht nur dem Buchstaben, 
sondern auch dem Geiste nach aufrechterhalten bleibt. 
Die Eigenart unserer staatlichen Zustände, wie die Beschaffenheit unserer sozialdemo- 
kratischen Partei stehen einer Politik der Aussöhnung in gleicher Weise entgegen. Eine 
gewaltsame Ausrottung der Sozialdemokratie ist ausgeschlossen. Auf diesen beiden 
direkten Wegen ist eine Lösung des sozialdemokratischen Problems, eine Beschwörung die- 
ser vor uns stehenden Gefahr nicht zu erreichen. So bleibt nur die Hoffnung auf indirekte 
Überwindung, indem die Sozialdemokratie an ihren Ursachen und treibenden Kräften 
erfaßt wird. 
Die sozialdemokratische Bewegung ist 
ihrem Charakter nach revolutionär. Es 
mag dahingestellt bleiben, ob sie zu revolutionären Taten schreiten wird. Ihre Ziele, 
die eine grundstürzende Umwandlung unseres gesamten öffentlichen Lebens bedingen, 
sind revolutionär sans phrase. Man wird deshalb für diese Bewegung die Erfah- 
rungen gelten lassen müssen, die mit jeder revolutionären Bewegung gemacht worden 
sind. Die Geschichte zeigt, daß eine radikale Strömung selten ohne äußeren Anlaß maß- 
voller geworden ist, daß der neue Anhang, den sich eine radikale Partei erwirbt, auf die 
Dauer selten mäßigend wirkt, meist geeignet ist, die Stoßkraft zu erhöhen und geneigt, sich 
der radikalen Führung mehr und mehr zu fügen. Wie in jeder Partei haben auch bisher in der 
sozialdemokratischen die radikalen Elemente in entscheidenden Augenblicken die Führung be- 
bauptet, weil sie der Masse der Parteianhänger als die zielbewußtesten erschienen. Es wird 
oft die Ansicht ausgesprochen, die Sozialdemokratie werde in dem Maße ungefährlicher und 
besonnener werden, in dem sich ihr Angehörige der gebildeten Volksschichten anschließen. 
Solcher Glaube widerspricht jeder Erfahrung. Die Gebildeten in der Sozialdemokratie 
sind nicht die Brücke, auf der die proletarischen Massen sich den Vertretern der geltenden 
Ordnung nähern, sondern sie sind eine Brücke, auf der die Intelligenz zu den Massen hin- 
überschreitet. Her Zulauf der Gebildeten aber macht eine revolutionäre Bewegung erst 
zu einer ernsten Gefahr. Die Geschichte lehrt, daß revolutionäre Bewegungen siegreich 
sein können, wenn sich die Stimmung der Intellektuellen, der bürgerlichen Intelligenz 
mit dem Drange der Massen verbindet. So war es in der großen Revolution. Solange 
Isolierung der Sozialdemokratie. 
  
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