I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 97
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Die katholischen Kreise haben sich ein hohes Verdienst dadurch erworben, daß sie
die katholische Arbeiterschaft zu einem großen Teil von der sozialdemokratischen Bewegung
zurückgehalten haben. Aber daß auch der Klerikalismus kein Arcanum gegen revolutionäre
Bewegungen besitzt, zeigt die französische wie die italienische, die portugiesische wie die
spanische Geschichte. Bei uns können sich die konservativen Elemente schon deshalb nicht
allein auf die klerikalen stützen, weil eine Mehrheit, die nur aus Konservativen und Zen-
trum besteht, in dem überwiegend protestantischen Deutschland mit seiner ganz über-
wiegend vom protestantischen Geist erfüllten Bildung immer eine Mehrheit mit schmaler
Basis bleibt, eine Mehrheit, die die Gefahr in sich trägt, zu einer Koalition aller links-
stehenden Elemente zu führen. ODamit wird aber gerade bewirkt, was verhindert werden
muß: eine Annäherung weiterer Kreise der bürgerlichen Intelligenz an die Sozial-
bemokratie.
Eine lebendige nationale Politik Das wahre Mittel, die Mehrheit der Nation
das wahre Mittel gegen die von den revolutionären Zielen der Sozial-
demokratie, von dem verführerischen Glauben
des Sozialismus an eine andere, unendlich
bessere Zukunft zurückzuhalten ist eine mutige und großzügige Politik, die die Freude an
der Gegenwart des nationalen Lebens zu erhalten versteht. Eine Politik, die die
besten nationalen Kräfte anspannt, eine Politik, die dem zahlreichen und immer
zahlreicher werdenden Mittelstand, der in seiner überwältigenden Mehrheit fest
zur Monarchie und zum Staat steht, anzieht, erhält und stärkt, die ohne bureau-
kratische Voreingenommenheit dem Talent auch im Staatsleben freie Bahn schafft,
eine Politik, die an die besten nationalen Empfindungen appelliert. Das nationale
Moment muß immer wieder durch nationale Aufgaben in den Vordergrund gerückt wer-
den, damit der nationale Gedanke nicht aufhört, die Parteien zu bewegen, zu binden und
zu trennen. Nichts wirkt entmutigender, lähmender und verstimmender auf ein geistig
reges, lebendiges und hoch entwickeltes Bolk, wie es das deutsche ist, als eine monotone,
unlebendige Politik, die eine Aufregung der Leidenschaften durch starke Entschlüsse scheut,
um den Kampf zu vermeiden. Mein Amtsvorgänger, Fürst Chlodwig Hohenlohe, war
als Botschafter in Paris mir während langer Jahre ein wohlwollender Chef, der sich
auch außerhalb der Dienststunden gern mit mir unterhielt. Als er mir einmal einen
damals bekannten baprischen Staatsmann als besonders tüchtig, gewissenhaft und fleißig
rühmte, fragte ich ihn, weshalb er als bayrischer Ministerpräsident den Betreffenden
nicht für einen Ministerposten in Vorschlag gebracht habe. „Zum Minister war er nicht
leichtsinnig genug“, erwiderte der Fürst mit großem Ernst. Als ich meinem Befremden
darüber Ausdruck gab, daß ein so besonnener, ruhiger und überaus vorsichtiger Mann
wie Fürst Hohenlohe so etwas sagen könne, erwiderte mir der weltkluge Fürst: „Meine
Bemerkung sollen Sie nicht als eine Aufforderung zu leichtsinniger Lebensführung auf-
fassen, zu der die Zugend ohnehin neigt. Was ich sagen wollte, war politisch gemeint.
Ein Minister muß eine ordentliche Portion Entschlußfreudigkeit und Schlagkraft in sich
haben. Er muß auch gelegentlich einen großen Einsatz riskieren und gegen eine hohe
Sozialdem okratie.
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