Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
122 Innere Politik. I. Buch. 
  
gekommen war, kennzeichnete der große König in einer Zeit, die das Nationalitäten- 
problem noch gar nicht kannte, die künftige Kulturaufgabe Preußens in den polnischen 
Gebieten als eine Germanisierung. Alsbald nach der Besitzergreifung begann er mit 
dem Ansiedlungswerk, für das er seine Siedler in ganz Deutschland suchte und fand. 
Auch der König setzte nur fort, was im Bittelalter begonnen war, die nationale 
Eroberung des deutschen Ostens durch die Andiedlung deutscher Landwirte auf dem 
Lande, deutscher Handwerker, Kaufleute und Gewerbetreibender in den Städten. Und 
als Bismarck mit seiner Ansiedlungspolitik im Jahre 1886 in größerem Maßstabe vor- 
ging, da griff er, wie in so vielen der größten seiner nationalen Entschlüsse, die Zügel 
auf, die der große König gehalten hatte und die nach seinem Tode am Boden geschleift 
hatten. Ein Beweis unter vielen, wie einheitlich die nationale Geschichte der Bölker 
ist, ein Beweis, daß es in nationaler Hinsicht nicht zwei Möglichkeiten von gleichem 
Recht, sondern nur eine von eigenem Recht gibt. So wahr es ist, daß wir unter den 
veränderten Verhältnissen die großen Vorbilder der Vergangenheit nicht sklavisch nach- 
ahmen dürfen, so wahr ist es aber auch, daß die großen nationalen Gesichtspunkte, die 
unsere größten Männer geleitet haben, ihren Wert für alle Zeiten und Gelegenheiten 
behaupten, und daß man ungestraft nicht dagegen sündigen kann. 
Es ist bekannt, daß Preußen von dem ungeheuren Zuwachs an ehemals polnischem 
Gebiet, das ihm die zweite und dritte Aufteilung Polens gebracht hatten, bei seiner 
Wiederherstellung im Zahre 1815 nur einen geringen Teil behalten hat, neben West- 
preußen, die heutige Provinz Posen, im ganzen nicht mehr als 7½% vom alten König- 
reich Polen. War auch die Provinz Posen mit ihrem seit dem Fahre 1000 bestehenden 
Erzbistum das Herzstück des polnischen Reiches gewesen, so war es doch im Laufe der 
Jahrhunderte der Teil des großen Reiches geworden, der am stärksten mit deutschem 
Element durchsetzt worden war. Mit der Eingliederung dieser alteingesessenen deutschen 
Bevölkerung in den Ostlanden übernahm Preußen eine nationale deutsche Pflicht neben 
den natürlichen staatlichen Pflichten gegenüber den Polen, die auf seinem Staatsgebiet 
wohnen und preußische Landeskinder geworden sind. 
Trotzdem die Polen das Recht auf selbständiges staatliches Leben verwirkt haben, 
nachdem sie Zahrhunderte hindurch außerstande gewesen waren, auf dem Grund staat- 
lichen Rechts und staatlicher Ordnung staatliche Macht zu schaffen, wird doch niemand 
die Augen schließen dürfen vor der Tragik des Schicksals dieses hochbegabten und 
tapferen Volkes. Wie es unrecht ist, im berechtigten und notwendigen Kampf gegen 
die Sozialdemokratie den arbeitenden Klassen zu nahe zu treten, so ist es unrecht, dem 
von der Staatsräson gebotenen Kampf gegen die großpolnische Propaganda eine Spitze 
gegen unsere polnischen Mitbürger zu geben, die so tapfer in den Kriegen 1866 und 
1870 unter den preußischen Fahnen gekämpft haben. Wir müssen Achtung und, gerade 
weil wir unser eigenes Volkstum hochhalten, Mitgefühl haben für die Treue, mit der der 
Pole an seinen nationalen Erinnerungen hängt. Aber diese Achtung und dieses Mitgefühl 
haben ihre Grenze da, wo der bewußte Wunsch und das Streben der großpolnischen 
Propaganda einsetzen, den Bestand der preußischen Monarchie in Frage zu stellen 
und an ihrer Einheit und Geschlossenheit zu rütteln. Alle Rücksicht auf die pol- 
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