I. Buch. Schlußwort. 133
scher Traditionen. Dieser Unterschied kommt nicht nur zur Geltung in den Parteigegen-
sätzen, sondern auch in den Parteien selbst. Man sucht es im deutschen Süden mehr in
einer Lösung der politischen Kräfte nach unten hin, in Preußen mehr in einer Bindung
der politischen Kräfte von oben her. Hort eine mehr geistige, hier eine mehr staatliche Auf-
fassung des politischen Lebens. Eine jede der beiden ist Ergebnis geschichtlichen Werdens
und hat ihre wohlberechtigte Eigenart. Der Preuße tut unrecht, wenn er im politischen
Leben Süddeutschlands nichts sehen will, als zersetzende Demokratie. Der Süddeutsche
tut ebensolches Unrecht, wenn er die Eigenart des preußischen Staatslebens als politische
Rückständigkeit perhorresziert. Fortschritt ist im politischen Leben ein sehr fließender
Begriff, und in welcher Richtung politischer Entwicklung zuletzt der wahre Fortschritt
liegen wird, das ist eine Frage, die alle Weisen der Welt nicht werden beantworten können.
Ein jeder Staat, ein jedes Volk sucht auf seine Weise vorwärtszukommen und seine
politischen Institutionen zu vervollkommnen. Wir Deutschen, die wir aus geschicht-
lichen Gründen nicht ein einheitliches, sondern ein vielgestaltiges Staatsleben haben,
dürfen uns weniger noch als ein anderes Volk abstrakte politische Prinzipien schaffen,
weder solche, die allein den preußischen, noch solche, die allein den süddeutschen Uberliefe-
rungen entnommen sind, und alle Politik über den Leisten dieser Prinzipien schlagen.
Unsere Aufgabe besteht darin, die politische Entwicklung in Preußen, den Einzelstaaten
und im Reich so zu führen, daß jedem der Elieder im Reich diejenigen Kräfte erhalten
werden, mit denen es dem gemeinsamen Baterlande am wertvollsten ist. Die Harmonie
des deutschen Lebens in allen seinen Teilen wird weniger zu erstreben sein durch eine
Uniformierung aller Einrichtungen in Nord und Süd, in Ost und West, als durch ein
Abschleifen der heute noch vorhandenen Gegensätze.
Die Bismarckische Reichsschöpfung war nicht zuletzt dadurch so meisterhaft, daß sie eine
feste Bindung schuf, ohne die Eigenart und die Selbständigkeit der Einzelstaaten zu zer-
stören, und daß sie durch die Wahrung des monarchischen Prinzips auch im neuen Reich
Preußen nicht nur nominell, sondern tatsächlich zum führenden Staat machte. Die Eini-
gung Deutschlands, die der patriotischen Demokratie in den vierziger Jahren des 19. Jahr-
hunderts vorschwebte, wollte die Selbständigkeit der Bundesstaaten mehr oder minder
aufheben und die einigende Kraft in den maßgebenden Einfluß eines Reichsparlamentes
legen. Abgesehen davon, daß die deutschen Fürsten für eine solche Einigung nie und
nimmer zu haben gewesen wären, war es ein Zrrtum, in dem durch und durch
monarchischen Deutschland einigende Kräfte von einem noch gar nicht vorhandenen,
geschweige denn erprobten Parlamentsleben zu erwarten. Daß in einer gemeinsamen
deutschen Volksvertretung die Kräfte mehr auseinanderstreben als sich im Reichs-
gedanken und in großen nationalen Aufgaben zusammenfinden, haben die seit der Reichs-
gründung vergangenen ZJahrzehnte mit ihren Kämpfen zwischen Reichsregierung und
Reichstagsparteien genügend bewiesen. Der Preuße Bismarck wußte am besten, daß in
Deutschland starkes Staatsleben nur monarchisch zu schaffen und zu erhalten ist. Das
Einigungswerk konnte nur von Dauer sein, wenn dem deutschen Reichsbau nicht lediglich
ein monarchisches Ornament gegeben wurde, sondern wenn die Monarchie tatsächlich
zum Träger der Einigung wurde. Und sollte die durch Jahrhunderte erprobte staats-
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