Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
16 Auswärtige Politik. I. Buch. 
  
zwischen beiden Bölkern von neuem aufstacheln müsse. Nach dem Abschluß des Hubertus- 
burger Friedens gab der ältere Pitt im Parlament seinem Bedauern Ausdruck, daß man 
Frankreich die Möglichkeit gewährt habe, seine Flotte wieder aufzubauen. Vornehmlich 
als Gegner der französischen Uberseepolitik wurde England der Feind Frankreichs im 
spanischen Erbfolgekriege, der der französischen Vorherrschaft in Europa den ersten emp- 
findlichen Stoß versetzte, England mit Gibraltar den Schlüssel zum Weltmeer und das 
Kerngebiet des von Frankreich heiß umstrittenen Kanada eintrug. In der Mitte des 
18. Jahrhunderts sagte Lord Thatam: „Die einzige Gefahr, die England zu befürchten hat, 
entsteht an dem Tage, der Frankreich im Nange einer großen See-, Handels- und Kolonial-- 
macht sieht.“ Und vor dem Krimkriege schrieb David Urquhart: „Unsere insulare Lage 
läßt uns nur die Wahl zwischen Allmacht und Ohnmacht. Britannia wird die Königin 
des AMeeres sein oder vom Meer verschlungen werden.“ 
Die englische Politik ist sich bis in die Gegenwart treu geblieben, weil England heute 
wie einst die erste Seemacht ist. An die Stelle der robusten Konflikte der älteren Zeit 
sind die feineren diplomatischen getreten. Der politische Zweck ist unverändert. 
Heutschland und England. Als Deutschland nach Lösung seiner kontinental- 
politischen Aufgaben, nach der Sicherung seiner 
europäischen Machtstellung, sich weder willens zeigte, noch überhaupt in der Lage war, 
auf das Beschreiten der weltpolitischen Wege zu verzichten, mußte es für England 
unbequem werden. Oie Konsequenzen dieser Wendung konnten in ihren Wirkungen 
durch die Diplomatie gemildert werden, zu verhindern waren sie nicht. 
Wenn wir aber auch die Traditionen der englischen Politik verstehen können, so 
liegt in einem solchen Verständnis doch keineswegs das Zugeständnis, daß England Grund 
hat, der Ausweitung der deutschen Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft, der deutschen Kon- 
tinentalpolitik zur Weltpolitik und insbesondere dem Bau einer deutschen Kriegsflotte 
mit dem gleichen Mißtrauen zu begegnen, das in früheren Jahrhunderten anderen Mäch- 
ten gegenüber vielleicht am Platze war. Der Gang unserer Weltpolitik ist in den Mitteln 
wie in den Zielen grundverschieden von den Welteroberungsversuchen Spaniens, Frank- 
reichs und zu Zeiten auch Hollands und Rußlands in der Bergangenheit. Die Weltpolitik, 
gegen die England früher so nachdrücklich auftrat, ging zumeist auf eine mehr oder minder 
gewaltsame Veränderung der internationalen Verhältnisse aus. Wir tragen lediglich 
unseren veränderten nationalen Lebensbedingungen Rechnung. Die von England oft 
bekämpfte Weltpolitik anderer Länder trug einen offensiven, die unsere trägt einen 
defensiven Charakter. Wir wollten und mußten zur See so stark werden, daß jeder An- 
griff auf uns für jede Seemacht mit einem sehr erheblichen Risiko verbunden war, und 
wir so in der Wahrung unserer überseeischen Interessen frei wurden von dem Einfluß 
und der Willkür anderer seemächtiger Staaten. Unsere kraftvolle nationale Entwicklung 
vornehmlich auf wirtschaftlichem Gebiet hatte uns über das Weltmeer gedrängt. Um 
unserer Interessen wie um unserer Würde und Ehre wegen mußten wir dafür Sorge tra- 
gen, daß wir für unsere Weltpolitik dieselbe Unabhängigkeit gewannen, die wir uns für 
unsere europäische Politik gesichert hatten. Die Erfüllung dieser nationalen Pflicht konnte 
  
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