Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
II. Buch. Die Reichsversicherung. 85 
  
bezug auf die Wirkung der Lasten muß man den nationalen und den internationalen 
Wirtschaftsmarkt auseinanderhalten. Soweit jener in Frage kommt, kann die Be- 
lastung durch die Sozialversicherung zu einer Konkurrenzunfähigkeit nicht führen, 
weil ja alle Wirtschaften im großen Ganzen gleichmäßig mit diesen Unkosten zu 
rechnen haben. Sicherlich spielen sie bei dem einen oder anderen Gewerbe oder Be- 
rufe, je nach dem augenblicklichen Stand und nach individuellen Momenten eine je- 
weils verschiedene Nolle. Immerhin ist hier der Beurteilung nur die Gesamtheit der 
in der Volkswirtschaft vorhandenen Betriebe zugrunde zu legen; da wird man sagen 
dürfen, daß, gewisser Schwierigkeiten unerachtet, die hauptsächlich die Landwirtschaft 
und der Mittelstand durch die Arbeiterversicherung hat, eine unerträgliche Belastung 
nicht angenommen werden kann. Aun wird aber betont, die deutsche Volkswirtschaft 
sei mit der Weltwirtschaft so innig verbunden, daß es auf die internationalen Wirkungen 
ankommt. Es wird gewiß nicht verkannt werden dürfen, daß, rein äußerlich betrachtet, 
diejenigen ausländischen Zndustrien, Handelsunternehmungen usw. zunächst billiger als 
die deutschen arbeiten, die nicht auch die Lasten der Sozialversicherung oder nur in ge- 
ringem Maße tragen. Aun gehen aber immer mehr außerdeutsche Staaten zur Nach- 
ahmung unserer Einrichtungen in der Sozialversicherung über, so daß die inter- 
nationale Konkurrenz sich infolge der mit der Zeit annähernd gleichen Belastung 
durch die Kosten der Sozialversicherung nicht zu ungunsten Deutschlands gestalten 
kann. Jedoch auch bis dahin bleibt zu beachten, daß nach gewissenhafter Schätzung 
der Last selbst der Großindustrie diese hinsichtlich der Unfallversicherung nur auf 
3 bis 4 vom Hundert des Lohnes kommt. Mit Recht dringt ferner immer mehr 
die Uberzeugung durch, daß beim Fehlen einer Fürsorge im Falle der Krankheit 
und des Alters, des Unfalls usw. die Arbeiter ihre Lohnforderungen erhöhen 
müßten, um sich selbst auf solche Fälle einzurichten. Zu beachten bleibt auch, daß die 
Haftpflichtersatzansprüche, die den Unternehmern von der Unfallversicherung abgenom- 
men werden, bei sozialer Handhabung im ZInteresse der Arbeiter noch viel belastender 
sein würden, als die jetzige Versicherung. Das Wichtigste aber ist, daß diese starke In- 
anspruchnahme des Unternehmertums die außerordentliche Blüte der Industrie und 
des Handels keineswegs gehindert hat. Za, es läßt sich mit Leichtigkeit übersehen, daß 
die Ausgestaltung der sozialen Versicherung und der Aufschwung des wirtschaftlichen 
Lebens zeitlich zusammenfallen; es kann also die sozialpolitische Belastung bisher nicht 
zu einem hemmenden Ballast geworden sein. Ohne weiteres ist allerdings zuzugeben, 
daß diese Erwägungen nur mit einem Aufstieg unseres wirtschaftlichen Lebens rechnen, 
nicht aber mit großen und dauernden Rückschlägen. Aber auch unter Einschaltung dieses 
Gesichtspunktes bleibt bestehen, daß es die volkshygienische Wirkung der sozialen Ver- 
sicherung, über die nicht gestritten werden kann, ist, daß vielleicht in keinem Lande der 
Welt ein im ganzen so gesunder Arbeiterstamm besteht wie in Deutschland, der außer- 
dem, durch Schule und Heer erzogen, intelligent und bildungshungrig, seine zweifel- 
lose Höherentwicklung mit der Fürsorge der Sozialversicherung verdankt. An der er- 
freulichen Erscheinung der Abnahme der Sterblichkeit sind die versicherten Arbeiter 
schon wegen ihrer Masse wesentlich beteiligt. Auf 1000 Einwohner kamen im Ourch- 
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