Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
94 Die Reichsversicherung. II. Buch. 
  
zu ersparen. Indem die Reichsversicherungsordnung als Voraussetzung der Errichtung 
u. a. bestimmt, daß die satzungsmäßigen Leistungen denen der maßgebenden Orts- 
krankenkasse mindestens gleichwertig sein müssen, hat sie den etwaigen Bestrebungen, 
durch die Innungskrankenkassen geringere Leistungen zu bieten, einen Riegel vorge- 
schoben. Es wird sich nunmehr herausstellen, ob die Innungen, die auch weiterhin zu- 
ständig sind für die Errichtung der Innungskrankenkassen, diese aus besonderem Be- 
dürfnis des betreffenden Handwerks oder aus anderen minder berechtigten Gründen 
ins Leben rufen wollen. Die Innungskrankenkassen hatten im Jahre. 1911 noch einen 
Mitgliederbestand von 327 000 Personen, die Krankheitskosten betrugen 7 927 519 M. 
Unbedeutend kann man diese Leistungen gewiß nicht nennen. 
Einen neuen Typus der Kassen schuf die Gesetzge- 
bung in den sogen. Landkrankenkassen. Es hängt 
dies damit zusammen, daß der Kreis der versicherten Personen in erheblichem Maße 
ausgedehnt worden ist. Langjährigen Forderungen entsprechend sind neu einbezogen 
in die Versicherungspflicht die Dienstboten, landwirtschaftlichen Arbeiter, die unständig 
und im Wandergewerbe Tätigen, endlich die Hausgewerbetreibenden. Während die 
in der Landwirtschaft Beschäftigten teilweise schon fakultativ unter gewissen Um- 
ständen versicherungsberechtigt werden konnten, ist hiervon doch ein verhältnismäßig 
geringer Gebrauch gemacht worden. Dasselbe gilt bezüglich der Dienstboten, deren Ver- 
pflegung im Krankheitsfalle lediglich nach den Vorschriften der Gesindeordnungen zu be- 
messen war, die nicht nur untereinander sehr stark abwichen, sondern auch im allgemeinen 
unzulänglich erschienen, besonders mit Rücksicht auf die Dauer der Krankenpflege. Die 
Ersatzmittel, die in privaten Verträgen mit Krankenhäusern usw. durch die Dienstherr- 
schaften getroffen worden waren, hatten mancherlei Mängel aufzuweisen. Die neue 
Regelung wird zweifellos für die Bediensteten und ihre Arbeitgeber sozial und hoygienisch 
besser sein. Noch viel bedeutsamer aber ist die Ausdehnung der Versicherungspflicht 
auf die landwirtschaftlichen Arbeiter. Mag auch das patriarchalische Verhältnis auf dem 
Lande zum Segen der Beteiligten hier und da noch Platz greifen, so hat die unerbitt- 
liche wirtschaftliche Entwicklung in der Mehrzahl aller Fälle doch von einem solchen Ver- 
hältnis sich abgewendet und die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter denen 
sehr angenähert, die auch im Gewerbe, in der Industrie, im Handel usw. zu finden sind. 
Über die Unzulänglichkeit der Krankenfürsorge der ländlichen Arbeiter ist sich alle Welt 
einig. Einsichtsvolle Landwirte erachten es selbst in ihrem eigenen Interesse für besser, 
die Sorge um ihre kranken Arbeiter einer öffentlichen Einrichtung übertragen zu können. 
Die neu geschaffenen Landkrankenkassen sollen nun alle die eben bezeichneten neu in 
die Bersicherung einbezogenen Personen mit aufnehmen. Wie groß die Zahl im ganzen 
sein wird, läßt sich nicht mit Sicherheit voraussagen. Die Schätzungen bewegen sich zum 
Teil bis zu insgesamt 10 Millionen, wobei dann allerdings auch die der Familienhilfe 
teilhaftig werden Personen mitberücksichtigt sein dürften. Im ganzen betrug die Zahl 
der Mitglieder der bisherigen Krankenkassen im Jahre 1911 rund 14,5 Mill. Personen. 
Man wird annehmen können, daß infolge der Erweiterung des Kreises der Versicherten 
Landkrankenkassen. Kritik. 
  
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