II. Buch. Finanzen und Steuern. 101
Oiesen verschiedenen Aufgaben wohnt nicht die gleiche Bedeutung für die Finanzen
inne. Die Erfüllung der einen, nämlich derjenigen, die der inneren Politik dienen,
ist mehr oder weniger in das Belieben der gesetzgebenden Faktoren gegeben. Die Er-
füllung der anderen, der Aufgabe des militärischen Schutzes, ist nur zum Teile dem
freien Ermessen überlassen; zum größten Teil ist sie bedingt durch das BVerhalten der
Nachbarstaaten; sie muß erfolgen im Verhältnis der Steigerung von deren Wehrmacht,
wenn nicht der Bestand des Reiches bedroht werden soll. Daraus ergeben sich schwer-
wiegende Folgen für den Reichshaushalt.
Aus dem deutsch-französischen Krieg war das Reich hervorgegangen. Wenn es der
Kunst des leitenden Staatsmannes auch gelungen war, ODeutschland die Frucht seiner
Siege zu sichern, so war ihm doch ein tief gekränkter, auf Vergeltung sinnender Feind
entstanden, der in Respekt gehalten werden mußte. Und im Laufe der Jahre kamen andere
Vorgänge dazu, die einen verstärkten Schutz bedingten. Vor allem das wirtschaft-
liche Erweiterungsbedürfnis des Deutschen Reichs. Gerade die Einigung zum Reiche
ist der mächtigste Hebel zu einer beispiellosen, nach aufwärts und auswärts drängenden
wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Die rasch sich mehrende Bevölkerung, zum Teil
auch die Krisis in der Landwirtschaft führten wachsende Menschenströme ins Ausland,
noch mehr aber in die industriellen Arbeitsstätten, die der rasch aufgeschossene Unterneh-
mungsgeist zu errichten begonnen hatte. Für die anschwellenden Mengen von Waren
mußten Albsatzgelegenheiten im Auslande gesucht werden. Die Zunahme der Einkommen
und Vermögen gab den Mut, höher verzinsliche Anlagen im Auslande aufzusuchen.
Während die Menschenausfuhr allmählich zurückging, wuchs die Ausfuhr von Waren
und Kapitalien. Erst mit Staunen, dann mit wachsendem Mißbehagen sahen andere
Staaten, allen voran England, den Einbruch in alte Reservate. Zwar war auch früher
der deutsche Kaufmann seinem Erwerb auf der ganzen Welt nachgegangen; aber mehr
unauffällig, mit bescheidenen Gewinnen sich begnügend, häufig in dienender Stellung,
ohne Nationalbewußtsein, ohne den Rückhalt eines starken und ansehengebietenden
Heimatlandes. Mit der Gründung des Reiches war dies anders geworden. Das Bedürf-
nis, im Ausland festen Fuß zu fassen, an den Handelsgewinnen anderer Völker teilzu-
nehmen, auf unverteilte Gebiete der Erde Hand zu legen, den Schutz seiner überseeischen
Interessen auszubauen, brachte den Deutschen in Gegensatz zu dem führenden Handels-
und Seefahrtsvolk der Welt. Angst um den Verlust der alten Weidegründe und die
Schmälerung der Welt- und Seeherrschaft haben England zu einer gewaltigen Steige-
rung seiner Seewehr und zu dem Bündnis mit Frankreich und Rußland geführt, dessen
Wirkungen wieder auf uns zurückfielen. Mochte das Deutsche Reich noch so oft die Fried-
fertigkeit seiner Gesinnung betonen —, man hatte sich draußen gewöhnt, es als Stören-
fried mit Mißtrauen und AUbelwollen zu betrachten. Unter solchen Verhältnissen blieb
nichts übrig, als den Aufwand für Heer und Flotte in steter Entwicklung zu steigern,
wenn anders das Reich nicht seine Existenz aufs Spiel setzen will.
Diese allgemeinen Ursachen für die Steigerung des Kriegsaufwandes werden
noch verstärkt durch besondere technische. Die moderne Technik, der wir die bei-
spiellosen Fortschritte auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens, insbesondere im
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