Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
28 Das Strafrecht. III. Buch. 
  
wie Prozeß reformbedürftig sind, so gebührt jenem der Vorrang. Denn der Prozeß 
will nur die Wege zur Verwirklichung des materiellen Rechts weisen, diese Wege werden 
aber von dessen Inhalt vielfältig bedingt oder beeinflußt. Nichts ist also natürlicher als 
die Folgerung, daß das materielle Recht wenigstens in seinen Grundzügen feststehen 
muß, bevor man an den Prozeß geht. Dazu kommt, daß eine NReugestaltung des mate- 
riellen Rechts immer eingreifende Anderungen des Prozesses — wenn auch nur in der 
äußeren, nicht wesentlichen Form eines Einführungsgesetzes — nötig macht, so daß, 
wenn mit der Prozeßordnung angefangen und dann erst zum materiellen Recht über- 
gegangen würde, nach dessen Feststellung sofort wieder eine eingehende Revision des 
Verfahrens notwendig würde. So wandten sich mit Recht Gesetzgebung und Wissenschaft 
der Vorbereitung eines neuen Strafgesetzbuchs zu, einer nicht gerigeren Auf- 
gabe, als es die Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs war. Nach einer länger dauern- 
den wissenschaftlichen und publizistischen Bewegung ist fast das ganze letzte Zahrzehnt 
der Regierungszeit unseres Kaisers mit Arbeiten zur Lösung jener Aufgabe erfüllt ge- 
wesen. Bevor hierauf näher eingegangen werden kann, muß jedoch betrachtet werden, 
inwieweit während der Berichtsperiode trotz der erwähnten Zurückhaltung das Straf- 
recht doch durch die Gesetzgebung im einzelnen fortgebildet worden ist. 
Zunächst wurde das Strafgesetzbuch durch die Verordnung 
vom 22. März 1891 (NRöl. S. 21) vom 1. April 1891 ab auf 
der neu erworbenen Znsel Helgoland eingeführt. 
Strafgesetzbuch. 
  
War dies nur eine selbstverständliche Erweite- 
rung des Geltungebereichs, so folgten demnächst 
wirkliche Anderungen und Ergänzungen. Zunächst auf dem Gebiet des Post- und Tele- 
graphenwesens, indem durch das Gesetz vom 13. Mai 1891 (Rö#l. S. 107), einem 
hervorgetretenen Bedürfnisse entsprechend, dem §+J 276 St GS#B. ein zweiter Absatz bin- 
zugefügt wurde, der die wissentliche Wiederverwendung schon einmal verwendeter 
Post- oder Telegraphenwertzeichen betrifft, während die von der Gefährdung des Tele- 
graphenbetriebes handelnden # 317, 318 sachgemäß geändert, und ein neuer & 318a 
eingestellt wurde, der die Ausdehnung dieser Vorschriften auf gewisse. Rohrposts- und 
Fernsprechanlagen sichert. Außerdem wurde dem §& 364 ein mit der Erweiterung des 
#l#276 zusammenhängender zweiter Absatz beigefügt, der sich gegen das Veräußern und 
Feilhalten der dort erwähnten Wertzeichen wendet, und in den §& 367 unter Nr. 5 a 
eine Strafdrohung gegen denjenigen eingeschoben, der bei Versendung oder Beförderung 
von leicht entzündlichen oder ätzenden Gegenständen durch die Post die deshalb ergangenen 
Verordnungen nicht befolgt. 
Post- und Telegraphenwesen. 
  
Völlig andere Materien betrafen die nächsten Gesetze. 
Wiederholt hatte es Anstoß erregt, daß die Verfolgung 
strafbarer Handlungen, die von Mitgliedern des Reichstages oder gesetzgebenden Ver- 
) Auf Grund #5 6 Ges. v. 15. Oezbr. 1890 (RGBl. S. 207. 
Verjährung; Wucher. 
  
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