Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
III. Buch. Der Strafprozeß. 53 
  
88 77 und 99,1 die Beschlüsse der Kommission aus deren 1. Lesung, wonach die Be- 
rufungsgerichte mit 5 Richtern und 2 Schöffen besetzt werden sollten, von neuem ein- 
gebracht und am 10. Februar, ungeachtet der preußische Zustizminister und der Staats- 
sekretär des Reichsjustizamts namens des Bundesrats die Zuziehung von Schöffen 
in den Berufungeinstanzen wiederum als unannehmbar erklärten, mit einer Majorität 
von etwas über 30 Stimmen angenommen. 
Bald darauf wurden die Sitzungen des Reichstags bis zum Herbst vertagt. Die 
Reichsregierung nahm für die kurze Herbstsession, mit der die Sitzungsperiode des Reichs- 
tags ablief, eine Weiterberatung der Str PO. in Aussicht und hoffte dann in 3. Lesung 
die von ihr gewünschte Besetzung der Berufungsgerichte im Wege des Kompromisses, 
und damit das Zustandekommen der Reform erreichen zu können. Zn der Herbstsession 
beschloß aber demnächst das Plenum des Reichstags auf Grund einer Vereinbarung 
des Seniorenkonvents die Gesetzentwürfe nicht mehr zur Durchberatung zu stellen. 
Auf totem Gleis. Mit diesem Beschluß war die im Frühjahr 1902 auf das 
einstimmige Ersuchen des Reichstags und das einmütige 
Verlangen des deutschen Volkes begonnene Reform des Strafprozesses in das 
tote Gleis geschoben, ein Werk, dem während 9 Zahre in den verschiedenen 
aufeinanderfolgenden Kommissionen eine ganze Reihe tüchtiger Zuristen treue und 
umsichtige Arbeit gewidmet, um dessen Zustandekommen sich bis zuletzt führende 
Männer fast aller Fraktionen heiß bemüht hatten, gescheitert, ein großzügiger Gesetz 
entwurf zunichte gemacht, der in wichtigen Fragen, vor allem in der erweiterten Zu- 
lassung der Berufung und der Laienrichter Forderungen entgegenkam, welche seit der 
mehr als 30jährigen Geltung der deutschen Strafprozeßordnung immer lauter und 
einiger von der öffentlichen Meinung gestellt worden waren. 
ZIn dem neugewählten Reichstag gab der Staatssekretär des Reichsjustizamts am 
12. April 1912 bei der 2. Lesung des Zustizetats eine Erklärung ab, wonach eine Wieder- 
aufnahme der Strafprozeßreform — bei der man wieder von vorn hätte anfangen müs- 
sen — fürs erste nicht in Aussicht genommen werde. Die Reform des Strafver- 
fahrens sei zurückgestellt, bis sich die Gestaltung des neuen Strafrechts über- 
sehen lasse. Dabei bemerkte er, daß man eine Fertigstellung des Entwurfs für dieses 
frühestens 1917 erwarten könne. Von den vielen wertvollen BVerbesserungen des Ver- 
fahrens, die der gescheiterte Entwurf einer neuen Str PO. enthalten hatte, wurden dann 
zwei zur sofortigen Einführung herausgegriffen und beim Reichstag am 29. November 
1912 der Entwurf eines Gesetzes über das Verfahren gegen Zugendliche und am 2. Mai 
1913 der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Entschädigung der Schöffen und Ge- 
schworenen eingebracht. Ersterer liegt noch jetzt dem Reichstag vor, letzterer ist im Reichs- 
tag angenommen und als Gesetz am 27. Zuli 1913 verkündet worden. 
  
Hindernisse. Sucht man nach den Hindernissen, woran die Reform der 
Str PO. gescheitert ist, so ist ein solches zunächst darin zu finden, 
daß der Reichstag vor dem Ablauf seiner Sitzungsperiode stand und eine Neuwahl mit 
  
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