Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
60 Der Strafprozeß. III. Buch. 
  
die auf den Straßen postiert sind, eine strafbare Ubertretung polizeilicher Vorschriften, 
die vor ihren Augen geschieht, ignoriert oder es bei einer Warnung belassen. Bei mancher 
Ubertretung, wie bei grobem Unfug und ruhestörendem Lärm, weist schon die allgemeine 
Fassung der Strafbestimmung auf ein derartiges verständiges Abwägen der Umstände 
des einzelnen Falles und auf ein taktvolles Beurteilen hin, ob hiernach die Verfolgung 
am Platze ist. Sachgemäß hatte bereits der Entwurf des Bundesrats diese der Staats- 
anwaltschaft gegebene Befugnis, die Verfolgung von AUbertretungen wegen Gering- 
fügigkeit zu unterlassen, für den Fall ausgeschlossen, daß ein durch die Ubertretung Ver- 
letzter die Verfolgung beantragt. Mit Recht ist denn auf Vorschlag der Reichstagskom-- 
mission die Beantragung der Verfolgung nicht bloß dem Verletzten, sondern jedem ein- 
geräumt, der ein berechtigtes Interesse an der Verfolgung hat. Volle Zustimmung ver- 
dient meines Erachtens auch die Einschränkung des Verfolgungszwanges der Staats- 
anwaltschaft, die der Entwurf weiterhin durch Ausdehnung der Privatstrafklage auf eine 
Reihe leichterer Vergehen und die gleichzeitige Bestimmung bewirkt, daß bei diesen die 
öffentliche Strafllage von der Staatsanwaltschaft nur zu erheben ist, wenn dies im 
öffentlichen Interesse liegt. 
Von den politischen Bestimmungen, welche die Reichstagskommission ver- 
langt, der Bundesrat aber abgelehnt hat, ist gegen die erste, die es den Gerichten ver- 
bieten will, an Zeugen Fragen zu stellen, die das Wahlgeheimnis berühren, bei der De- 
batte in der Kommission mit Recht eingewandt worden, daß solche Fragen in gericht- 
lichen Untersuchungen wegen Wahlfälschung oder Wahlbestechung unbedingt nötig seien. 
Die anderen Vorschläge verlangen persönliche Privilegien für Abgeordnete. Solche sind 
im Wege einer Anderung der Verfassung zu erstreben. Es ist meines Erachtens nicht 
angängig und nicht des Parlaments würdig, wenn es die Gewährung von Privilegien 
an seine Mitglieder als Bedingung seiner Zustimmung zu Zustizreformen aufstellt, die 
im Interesse der Allgemeinheit geschehen sollen. Auf keinen Fall könnte den Abgeord- 
neten ein Zeugnisverweigerungsrecht gewährt werden über Mitteilungen, die sie als 
Abgeordnete erhalten haben und über die Personen, von denen ihnen die Mitteilungen 
gemacht worden sind. Es ist dem Staatsminister Grafen von Posadowsky vollauf zuzu- 
stimmen, wenn er in der D###. 1911 S. 1298 ff. ausführt, daß man damit eine Ommunität 
des geheimen Denunziantentums schaffen würde. 
Zm übrigen sind sämtliche Einzelbestimmungen des Entwurfs, wie er nach der 
gründlichen Beratung in der Reichstagskommission vor uns liegt, durchweg wertvolle 
Verbesserungen. 
Gemäß den vorstehenden Ausführungen glaube ich, die 
Hoffnung aussprechen zu dürfen, daß sich auf dem Boden 
so langjähriger treuer und tüchtiger Arbeit demnächst durch 
verständige Vermittelung zwischen noch voneinander abweichenden Rechtsanschauungen 
eine umfassende großzügige und für die Strafrechtspflege segensreiche Reform unseres 
Strafprozesses wird aufbauen lassen! 
Hoffnung auf eine 
großzügige Reform. 
  
  
  
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