Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

Völkerrecht 
Von Dr. Karl Freiherr v. Stengel, 
Geh.-Rat und Professor der Rechte an der Iniversität München 
Vorbemerkung 
Die nachfolgende Darstellung verfolgt nicht den Zweck, einen Uberblick über den 
gesamten Inhalt des Völkerrechts zu geben, wie ein solcher aus jedem Lehrbuch des 
Völkerrechts gewonnen werden kann. 
Bielmehr will dieselbe nach einer kurzen, die Begriffe des Völkerrechts und der 
völkerrechtlichen Gemeinschaft erörternden Einleitung eine knappe Übersicht über die 
Entwicklung des Völkerrechts und der Völkerrechtsgemeinschaft während der letzten 
hundert Fahre bringen, mit besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in den letzten 
Lahrzehnten, in welche die Regierung Sr. Maj. des Kaisers Wilhelm II. fällt und in 
welchen das Deutsche Reich an allen für die Entwicklung des Völkerrechts wichtigen 
Ereignissen teilgenommen und eine maßgebende Rolle in der Weltpolitik gespielt hat. 
Im Zusammenhange mit den beiden Friedenskonferenzen vom ZJahre 1899 und 
1907, deren Verlauf und Ergebnis ausführlicher besprochen werden mußte, ist gegen- 
wärtig eine gewisse Krisis in der Entwicklung des Völkerrechts eingetreten in der Weise, 
daß die ziemlich einflußreich gewordene pazifistische Strömung nicht bloß die Beseiti- 
gung des Krieges, sondern auch in letzter Linie eine straffere Organisation der völker- 
rechtlichen Gemeinschaft in einer Weltföderation mit staatenbundlicher oder bundes- 
staatlicher Verfassung anstrebt. 
Zu dieser Strömung mußte Stellung genommen und dargetan werden, daß ee sich 
dabei um Ziele handelt, die nach menschlicher Voraussicht niemals verwirklicht werden 
können und um Bestrebungen, deren Verfolgung die Grundlage des gegenwärtig 
geltenden Völkerrechts, nämlich die Souveränität der Staaten und damit deren Unab- 
hängigkeit und Bewegungsfreiheit in der bedenklichsten Weise zu untergraben geeignet 
ist, selbst wenn es sich bei einzelnen dieser Bestrebungen, wie bei dem Verlangen nach 
Abschluß eines auf der Grundlage des obligatorischen Schiedsverfahrens beruhenden 
Weltschiedsvertrags, nur um vorbereitende Maßregeln für die Erreichung der letzten 
Ziele handelt. 
Deutschland hat aber um so weniger Anlaß, auf eine Minderung seiner so schwer 
errungenen Unabhängigkeit und Selbständigkeit einzugehen, als die Verwirklichung 
dieser Bestrebungen weder für die völkerrechtliche Gemeinschaft im ganzen, noch für deren 
einzelne Mitglieder von Vorteil sein würde und überdies jede Begünstigung ungesunder 
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