Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
III. Buch. Völkerrecht. 89 
  
bestehenden Organisation der völkerrechtlichen Gemeinschaft gegeben, die ganz mit Un- 
recht als eine „anarchische“ bezeichnet wird. 
Es ist in der Tat eine durchaus tendenziöse Behauptung, wenn der gegenwärtige 
Zustand der völkerrechtlichen Gemeinschaft fortwährend ein „anarchischer“ genannt wird. 
Oie völkerrechtliche Gemeinschaft ist schon deshalb nicht anarchisch, weil sie durch die Bölker- 
rechtsordnung, der alle ihre Mitglieder untergeben sind, zusammengehalten wird. Sie 
besitzt ferner zwar keine ständigen Organe, aber sie ist in der Lage, sich in Kongressen und 
Konferenzen jederzeit Organe zu schaffen, durch die sie gemeinsame Angelegenheiten 
regeln kann. Sie hat auch durch eine große Anzahl von Vereinbarungen die wichtigsten 
gemeinsamen Angelegenheiten geregelt und selbst eine Anzahl internationaler Behör- 
den geschaffen. 
Die völkerrechtliche Gemeinschaft besitzt daher bereits eine solche Organisation, wie 
sie einer Gemeinschaft entspricht, die sich aus souveränen Gemeinwesen zusammensetzt, 
während die Bestrebungen, eine Weltföderation in größerem oder geringerem Umfange 
zu schaffen, im Widerspruch mit den gegenwärtigen Grundlagen der völkerrechtlichen 
Gemeinschaft steht. 
Das deutsche Volk hat sich seit dem Bestehen des Deutschen Reichs trotz seiner gewal- 
tigen Kriegsrüstung durchaus friedfertig gezeigt, so daß kein Anlaß besteht, ihm dadurch 
die Hände zu binden, daß man es zwingt, einen auf der Anerkennung des Grundsatzes 
der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit beruhenden Weltschiedsvertrag abzuschließen. 
Wenn es bisher diesem Verlangen gegenüber sich ablehnend verhalten hat, so geschah 
dies nicht deshalb, weil es sich gegen jeden Fortschritt in der Entwicklung sträubt — daß 
dies nicht der Fall ist, hat es oft genug bewiesen —, sondern lediglich aus dem Grunde, 
weil es nicht Bestrebungen unterstützen will, die schließlich zu einer Untergrabung der 
Grundlagen des gegenwärtig geltenden Völkerrechts führen müssen, ohne daß mit Sicher- 
beit erwartet werden kann, daß an die Stelle des bestehenden Rechtszustandes etwas Besse- 
res tritt. 
Daß diese Haltung des Deutschen Reiches nicht bloß in seinem eigenen Interesse 
liegt, sondern auch im Interesse der völkerrechtlichen Gemeinschaft, ergibt schon die 
Erwägung, daß dadurch auch andere Staaten in der Uberzeugung bestärkt werden können, 
daß die Verfolgung utopistischer Ziele das Gegenteil von dem erreichen wird, was beab- 
sichtigt ist, und die Gefahr nahelegt, daß tiefgehende Spaltungen in der völkerrechtlichen 
Gemeinschaft entstehen. 
Es hat sich bei der nationalen Gesetzgebung stets gerächt, wenn dieselbe auf die 
gegebenen Verhältnisse, namentlich die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Gegen- 
sätze, nicht die gebührende Rücksicht nahm, ebenso müßte der Versuch einer Entwicklung 
des Völkerrechts nur Nachteile und Verwirrung bewirken, wenn sie die gegenwärtigen 
Grundlagen der völkerrechtlichen Gemeinschaft verlassen und die vorhandenen inter- 
nationalen Gegensätze außer acht lassen würde. 
  
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