36 Auswärtige Politik. I. Buch.
immer bestrebt bleiben, höfliche, ruhige und friedliche Beziehungen zu Frankreich auf-
rechtzuerhalten. Darüber hinaus aber sollten wir keinen Phantasmen nachjagen, sonst
könnte es uns gehen, wie dem Astronomen bei Lafontaine, der, während er nach den
Sternen blickte, in das Loch fiel, das vor seinen Füßen lag und das er nicht gesehen
hatte. Das Loch heißt in diesem Falle Le trou des Vosges. Wir sollten uns auch Frank-
reich gegenüber von Aufmerksamkeiten und Liebenswürdigkeiten, der petite monnaie
des internationalen Verkehrs nicht allzuviel versprechen. Das aussprechen heißt dem
stolzen Patriotismus eines großen Volkes ein Lob spenden. Der Groll gegen Deutsch-
land sitzt zu tief in den französischen Herzen, als daß wir ihn durch billige Freundschafts-
bezeigungen beseitigen könnten. Niemals ist Frankreich, auch nicht nach den katastro-
phalen Niederlagen der Jahre 1812 bis 1815, so hart getroffen worden wie durch den
Krieg von 1870/71. Für die Tatsache, daß uns Deutschen nationale Notwendigkeit
gewesen ist, was den Franzosen als brutale Härte des Siegers erscheint, finden wir in
Frankreich kein Verständnis. VBielleicht wird sich das französische Volk im Laufe der
Zeit den Bestimmungen des Frankfurter Friedens fügen, wenn es erkennen muß, daß
sie unabänderlich sind. Solange Frankreich aber eine Möglichkeit zu erkennen glaubt,
durch eigene Kraft oder fremde Hilfe Elsaß-Lothringen wieder an sich zu bringen, wird
es im gegenwärtigen Zustande ein Provisorium, nicht ein Definitivum sehen.
Die Franzosen haben das Recht, für diese Grundstimmung der Mehrheit des fran-
zösischen Bolkes Verständnis zu beanspruchen. Es ist ein Beweis lebhaften Ehrgefühle,
wenn eine Nation so tief unter einer einmal erlittenen Kränkung ihres Stolzes leidet,
daß der Wunsch nach Vergeltung zur beherrschenden nationalen Leidenschaft wird. Wohl
ist es richtig, daß Frankreich durch Jahrhunderte den Geist der Unruhe in die europäüsche
Geschichte getragen hat. Wir mußten uns durch eine nachhaltige Berstärkung unserer
Stellung gegen Westen vor neuen Störungen unseres Friedens sichern. Das Mittel hat tat-
sächlich auch nicht ganz versagt, zum Rutzen nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas.
Aber der Franzose sieht die Dinge mit anderen Augen an. Die Politik ruhmvoller Aben-
teuer, die Europa oft die Ruhe genommen und die Nachbarn Frankreichs wiederholt
zu den letzten äußersten Kraftanstrengungen gezwungen hat, ist für Frankreich die eigene
große Vergangenheit, die den eigentümlichen nationalen Ehrgeiz der Franzosen am groß-
artigsten und ursprünglichsten zum Auedruck gebracht hat. Die französische Geschichte
unterscheidet sich von der deutschen unter vielem anderen auch darin, daß sie in den größten,
in jenen dramatischen Momenten, wo sich die Schicksale der Bölker entscheiden, von fran-
zösischen Eroberungskriegen zu erzählen hat, während in der deutschen Geschichte die
Taten nationaler Verteidigung die schönsten Ruhmesblätter sind. Eben die Zeiten eines
Ludwig XIV., eines Napoleon I., deren Wiederkehr wir verhindern wollen und gegen
die wir uns durch eine Verstärkung unserer Grenzen gegen Frankreich sichern mußten,
sind für viele Franzosen und in bewegten Momenten für die ganze Nation das Ziel
nationaler Sehnsucht. Das durch die Ereignisse von 1866 und 1870 erstarkte Deutsch-
land hat alle seine neue Kraft auf den Ausbau des eigenen nationalen Lebens gewandt.
Frankreich ist nach jeder Erstarkung seiner nationalen Macht aggressiv nach außen auf-
getreten und würde es wieder tun, wenn es sich Erfolg versprechen könnte. Damit müssen
36