Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
IV. Buch. Seemacht und Kriegsflotte. 27 
  
bestimmt war, der Träger des Kampfes zu werden? Zeder Taktiker gab dem Konstrukteur 
auf diese Frage eine andere Antwort, und so ist die Mufsterkarte verschiedenartigster Schiffe 
entstanden, die in den 70er und 80er Jahren die Flottenlisten füllten. Die Rückwirkung 
konnte nicht ausbleiben: die Bielgestaltigkeit der Schiffstypen steigerte nur die Viel- 
gestaltigkeit der taktischen Ansichten, ein allgemeiner Wirrwarr war die Folge. 
Die preußisch-deutsche Marine. Auch die preußischdeutsche Marine hatte 
sich diesen Einflüssen nicht völlig zu ent- 
ziehen vermocht; aber außer den kleineren Fahrzeugen, die dem Küstenschutz dienen 
sollten, wurden in den Flottenplänen von 1863 und 1865 doch auch größere gepanzerte 
Schiffe als „Schlachtflotte“ gefordert. Diese Forderungen drangen nicht durch, aber 
als nach Gründung des Norddeutschen Bundes die Mittel reichlicher flossen, waren im 
Ausland eine Anzahl von Panzerfregatten bestellt worden, und das Jahr 1869 brachte 
mit der Einweihung von Wilhelmshaven den ersten Schritt in die dem Weltmeer näher 
liegende Nordsee. Dann kam die Errichtung des Deutschen Reiches, die der Flotte zwar 
erweiterte Aufgaben zuwies, ihr einen dementsprechenden Machtzuwachs aber nicht ge- 
bracht hat. Die Gründe hierfür sind von der verschiedensten Art. 
Nach Beendigung des Krieges war für die Marine die bis dahin bestehende Trennung 
für Kommando und Verwaltung aufgehoben worden. An die Spitze der neuen Zentral- 
behörde, der Kaiserlichen Admiralität, trat der General v. Stosch. Der von ihm dem 
Reichstage im Jahre 1873 vorgelegte Flottengründungsplan hat bis in den Beginn des 
jetzigen Flottengesetzes hinein seine Bedeutung behalten, und die ihm beigegebene Begrün- 
dung läßt die damalige Stellung zur Flottenfrage am besten erkennen. Daß man in 
einer Zeit, da die Siege der Armee eine so gewaltige Machtstellung für Deutschland 
errungen hatten, der Mitwirkung der Flotte kaum zu bedürfen glaubte, um aufrecht zu 
erhalten, was gewonnen war, ist ja vielleicht erklärlich. Die Zahl der erforderlichen 
Schlachtschiffe, die Preußen im Etat von 1865 von 6 auf 10 hatte erhöhen wollen, wurde 
auf 8 herabgesetzt, und neben diese eigentliche Schlachtflotte sollten „Ausfallskorvetten“ 
treten. Der Rückzug auf die Küstenverteidigung begann, der, was den Schiffstyp anbe- 
trifft, dann seine Fortsetzung fand in dem Bau kleiner gepanzerter Kanonenboote. Wie 
in den ganzen Erwägungen dieses Flottengründungsplanes der Landkrieg obenan stand, 
zeigt am klarsten der Satz: „Die Wegnahme einer ganzen feindlichen Kriegsflotte gewährt 
höchstens das Mittel, eine Eroberung zu beginnen.“ Haß die Beherrschung der See 
das besiegte Land von der See scheidet und ihm alles das nimmt, was aus der großen 
Welt ihm an Kräften zufließt, ist aus solchen Anschauungen nicht zu erkennen. 
Die früheren Etats für die Marine hatte der Kriegs- und Marineminister v. Roon 
aufgestellt, aber in ihnen war die Ansicht der im Marineministerium selbst wie namentlich 
im Oberkommando der Marine diensttuenden Seeoffiziere doch mehr zur Geltung ge- 
kommen, als es hier geschah. Man kann es nicht leugnen: die Schaffung des Reiches 
hatte dem Flottengedanken zunächst einen Rückschritt gebracht. Nur in Gebieten, die 
so losgelöst von der europäischen Machtsphäre und so wenig zugänglich für den Klang 
deutschen Waffenruhms seien, daß für sie etwas besonderes geschehen müsse, glaubte 
  
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