I. Buch. Auswärtige Politik. 41
Delcassé die Entscheidung über Krieg und Frieden von der Konferenzfrage abhängig
machen. Als die deutsche Regierung unerschütterlich blieb, willigte Frankreich in die
Konferenz. Herr Delcassé legte das Portefeuille des Auswärtigen nieder. Er trat
zurück, und wir setzten unseren Willen durch, weil wir fest blieben. In Allgesiras
hatten wir gegenüber den Ententemächten und bei dem geringen Interesse, das
die anderen. Mächte an der marokkanischen Frage nahmen, naturgemäß keine
leichte Stellung. Trotzdem gelang es uns, unter Wahrung der Souveränität des
Sultans, für die Organisation der Polizei und die Errichtung der marokkanischen
Staatsbank eine internationale Regelung zu erreichen und den deutschen wie
den wirtschaftlichen Interessen aller anderen Länder die offene Tür in Marokko
zu sichern. Nicht alles Erwünschte, aber das Wesentliche war erreicht worden.
Der Versuch, uns von einer großen internationalen Entscheidung auszuschließen, war
durchkreuzt worden. An der künftigen Gestaltung der marokkanischen Angelegen-
heiten war uns ein entscheidendes Mitbestimmungerecht gesichert, auf das wir ohne
ausreichende Kompensationen nicht zu verzichten brauchten. Die Beschlüsse der Kon-
ferenz von Algesiras waren ein Riegel vor den Tunifikationsbestrebungen Frankreichs
in Marokko. Sie waren auch eine Klingel, die wir jederzeit ziehen konnten, wenn Frank-
reich wieder solche Tendenzen an den Tag legte. In Frankreich wurde die neue Ord-
nung der Dinge alsbald nach der Algesiraskonferenz sehr peinlich empfunden. Die „un-
selige Algesiras-Akte“ wurde als eine „Frankreich aufgezwungene europäische Vormund-
schaft“, bestenfalls als eine „ehrenvolle Rückzugslinie“ bezeichnet. Man hat wohl gesagt,
wir hätten nach dem Rücktritt Delcassés eine direkte Berständigung mit Frankreich
über Marokko suchen sollen. Es mag dahingestellt bleiben, ob Frankreich überhaupt
geneigt war, uns einen annehmbaren Preis zu zahlen. Zedenfalls durften wir schon
mit Rücksicht auf unsere Stellung in der Türkei und zum Zslam diesen Weg nicht
einschlagen. Im November 1898 hatte Kaiser Wilhelm ll. in Damaskus erklärt:
„Mögen die 300 Millionen Mohammedaner, welche auf der Erde verstreut leben, dessen
versichert sein, daß zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.“ In Tanger
hatte sich der Kaiser mit Entschiedenheit für die Integrität Marokkos ausgesprochen.
Wir hätten uns um jeden Kredit in der islamischen Welt gebracht, wenn wir so kurze Zeit
nach diesen Kundgebungen Marokko an die Franzosen verkauft hätten. Unser Botschafter
in Konstantinopel, Freiherr von Marschall, sagte mir damals: „Wenn wir Marokko trotz
Damaskus und Tanger preisgeben, so verlieren wir mit einem Schlage unsere Stellung
in der Türkei und mit ihr die Vorteile und Zukunftsaussichten, die wir uns durch
jahrelange Arbeit mühsam erworben haben.“
Das deutsch-französische Sonderabkommen vom 9. Februar 1909, das unter hervor-
ragender Mitwirkung des späteren Staatssekretärs v. Kiderlen-Wächter zustande kam,
verminderte die Möglichkeit fortgesetzter Reibungen zwischen beiden Staaten, indem es
Frankreich einen gewissen politischen Einfluß in Marokko sicherte, ohne ihm die An-
eignung zu ermöglichen, hielt aber das Prinzip der offenen Tür fest und gewährleistete
deutschem und französischem Handel und Gewerbe das gleiche Betätigungerecht im un-
abhängigen und in seinem Gebietsumfange unverminderten marokkanischen Staat.
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