1. Buch. Auswärtige Politik. 45
dann, wenn es zu der Ansicht käme, daß es seine wirtschaftlichen und politischen Lebens-
interessen nicht anders als auf gewaltsamem Wege gegen Oeutschland durchsetzen könne.
Die Triebfeder der englischen Politik uns gegenüber ist nationaler Egoismus, die der
französischen nationaler Zdealismus. Wer seine Interessen verfolgt, wird aber meist be-
Englisch-deutscher Ausgleich. sonnener bleiben, als wer einer r** nachjagt.
Gewiß hat der englische Kaufmann über See bis-
weilen die Konkurrenz seines deutschen Berufskollegen unbequem empfunden, konkurrieren
in der Welt hier und da die deutschen mit den englischen wirtschaftlichen Interessen.
Aber auf seinen großen weltpolitischen Bahnen hat England kaum eine der
großen Mächte so selten hemmend vor sich gesehen wie das Deutsche Reich. Das ist bei aller
Sorge vor der deutschen Kriegsflotte den Engländern nicht entgangen. Deutschland und
England sind wohl die einzigen europäischen Großmächte, zwischen denen nie ein Tropfen
Blut vergossen wurde. Es hat zwischen ihnen Reibungen und Spannungen gegeben,
niemals einen Krieg. Erfreulicherweise gewinnt auch in England die Einsicht an Boden,
daß sich England im dauernden Gegensatz zu uns, bei einer forciert antideutschen
Politik nur selbst schadet. Wohl bewußt ist endlich diesem größten Handelsvolk, wie treff-
liche Kunden England und Deutschland einander sind, und wie schmerzlich das britische
Wirtschaftsleben den Ausfall der deutschen Kundschaft empfinden müßte. Den In-
teressengegensätzen zwischen Deutschland und England stehen sehr vitale Interessen-
gemeinschaften gegenüber. Und im Grunde liegen die Gefahren der neuen Welt-
und Seemacht für die englische Vormachtstellung auf dem Meere nur im Bereich
der Möglichkeiten oder, richtiger gesagt, der Einbildung, nicht im Bereich fühlbarer
Wirklichkeiten. Mit der Stellung Frankreichs zu Deutschland ist die Stellung Eng-
lands zu uns nicht zu vergleichen. Frankreich bewegt sich im Kreise um den Gedanken
an Elsaß-Lothringen. Die englische Politik steht wohl unter dem Einfluß der Sorgen,
die weite englische Kreise vor der wirtschaftlichen Expansion und der wachsenden See-
macht Deutschlands erfüllen. Seit dem Ende der Einkreisungspolitik im Zahre 1908
denkt England aber nicht mehr daran, seine gesamte internationale Politik oder auch
jede Einzelheit seiner Beziehungen zum Deutschen Reich vom Gegensatz gegen Deutsch-
land abhängig zu machen. Obwohl wir seit dem Beschreiten des weltpolitischen Weges
in England oft einen Widersacher hatten, können unsere Beziehungen zu England jetzt,
wo wir die nötige Verteidigungsstärke zur See erlangt haben, aufrichtig und vorbehalt-
los freundliche und freundschaftliche sein. In der richtigen Erkenntnis, daß Frieden und
Freundschaft zwischen Deutschland und England beiden Ländern heilsam, Feindschaft
und Streit für beide gleich nachteilig sind, hat Kaiser Wilhelm ll. seit seinem Regierungs-
antritt aus innerstem Drang und mit nie erlahmendem Eifer an der Herstellung eines
guten Verhältnisses zwischen den beiden großen germanischen Nationen gearbeitet. Es
gibt viele Gebiete, auf denen beide Völker gleichlaufende Interessen haben. Wo ein Zu-
sammengehen, bei dem beide Teile ihren Vorteil finden, möglich ist, besteht für sie kein Grund,
nicht Seite an Seite und Hand in Hand zu gehen. In dem Maße, in dem hüben und drüben
die Erkenntnis an Boden gewinnt, daß die nationalen Interessen beider Länder bei gemein-
samem Vorgehen am besten auf ihre Rechnung kommen, werden auch die Voraussetzungen
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