Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 71 
  
beiden gemeinsam. Wie viele liberale Männer gibt es, die einzelnen konservativen An- 
schauungen durchaus zuneigen! Wie viele konservative Männer, die keineswegs allen 
liberalen Gedanken und Forderungen ablehnend gegenüberstehen! Alle diese Männer 
halten sich trotzdem keineswegs für politisch farblos und sind es auch nicht. Und was 
nun die Minister angeht, so pflegen sich die Parteiblätter in regelmäßigen Zwischen- 
räumen darüber zu streiten, ob dieser oder jener Minister mit dem konservativen oder 
dem liberalen Stempel zu versehen sei, wobei gewöhnlich jede Partei die Mehrheit 
der Minister der Gegenpartei anzuhängen sucht. Die Wahrheit ist, daß die meisten Minister 
in Verlegenheit sein würden, auf die Frage, zu welchem Parteiprogramm sie sich be- 
kennen, eine präzise Antwort zu geben. 
Die Parteigegensätze allzusehr auf die Spitze zu treiben, ist nicht nur unberechtigt, 
sondern auch unpraktisch. Die Parteien pflegen nicht allzulange Arm in Arm zu gehen, 
und der Bund, den sie miteinander flechten, ist kein ewiger Bund. Sie kommen also, 
wenn sie mit den Freunden von gestern brechen und sich mit den Feinden von gestern 
versöhnen, am Ende in die peinliche Lage, die sorgsame Konstruktion grundsätzlicher 
Parteigegensätze mit derselben Mühe wieder abtragen zu müssen, die sie an ihren Aufbau 
gewandt haben. Das ist ungefähr so oft geschehen, wie die Zusammensetzung der Mehr- 
beiten sich verändert hat. 
Wären die Parteigegensätze wirklich so tiefgehend, so alle Einzelheiten des politischen 
Lebens durchdringend, wie es in den Zeiten des Parteihaders dargestellt wird, so müßte 
es bei der Bielheit unserer Parteien, deren keine bisher die absolute Mehrheit hatte, 
unmöglich sein, gesetzgeberische Arbeit zustande zu bringen. Nun ist aber tatsächlich 
während der letzten Jahrzehnte auf fast allen Gebieten der inneren Politik vielseitige und 
wertvolle Arbeit geleistet worden. Die Parteien haben sich der Reihe nach zur Verfügung 
gestellt und ihre früher scharf betonten Gegensätze oft mit erstaunlicher Plötzlichkeit über- 
winden können. Freilich werden dann andere Gegensätze um so schärfer betont. Das hält 
auch nur bis zur nächsten neuen Mehrheitsbildung vor, so daß in der Tat kein Grund vor- 
liegt, die Gegensätze zwischen den Parteien gar so tragisch zu nehmen. 
Als eine veränderliche Größe wird auch die 
Regierung die Parteigegensätze nehmen 
müssen. Freilich nicht nur als eine Größe, die in sich selbst veränderlich ist, sondern auch 
als eine Größe, auf deren Beränderung sich einwirken läßt. Auf die eingewirkt werden 
muß, wenn es das Interesse von Keich und Staat erfordert. Es ist nicht damit getan, 
die Mehrheiten zu nehmen, wo man sie findet und wie sie sich bieten. Die Regierung 
muß versuchen, sich für ihre Aufgaben Mehrheiten zu verschaffen. 
Das Regieren mit wechselnden Mehrheiten, von Fall zu Fall, hat gewiß seine Vor- 
teile und Annehmlichkeiten, aber es hat auch seine großen Gefahren. Ein Allheilmittel 
für alle politischen Lebenslagen ist es jedenfalls nicht. Man pflegt sich auf Bismarck 
zu berufen, der die Mehrheiten nahm, wo er sie fand. Wie den meisten Bezugnahmen 
auf Vorgänge der Tra Bismarcks fehlt auch dieser die Hauptsache, nämlich Bismarck 
selbst an der Spitze der Regierung. Er hielt die Führung so eisern in seiner Hand, daß 
Die Regierung und die Parteien. 
  
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