Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
6 Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik. VI. Buch. 
  
des Anerbenrechtes für bäuerlichen, mitunter für ländlichen Grundbesitz überhaupt, 
auch des Rechts der Fideikommisse. Das ist in Preußen auch in der jüngsten Periode 
seit 1888 im ganzen so geblieben, doch sind einzelne Erneuerungen und Fortbildungen 
besonders im Gebiet des ländlichen Anerbenrechtes und für Zwecke der inneren Koloni- 
sation, sowie für Förderung der Kreditverhältnisse und ländlichen Produktions- und 
Absatzverhältnisse, namentlich durch genossenschaftliche Einrichtungen, erfolgt. Ourch 
Entwicklung des ländlichen Fachschulwesens hat eine Verbreitung der Kenntnisse agra- 
rischer Technik und vornehmlich auch im Gebiet des Meliorations- und Kunstdünger- 
wesens eine erhebliche Förderung der Landwirtschaft stattgefunden. Der Fort- 
schritt zu intensiverer Bewirtschaftung, zum Ubergang von der Körnerwirtschaft mehr 
zur Biehwirtschaft ist damit begünstigt worden. Durch Gewährung steigenden und nach 
einer bedenklichen Verminderung in der Zeit der Reichskanzlerschaft Caprivis später 
wieder ausreichend gewährten Zollschutzes, besonders für Getreide, ist der Landwirt- 
schaft auch der notwendige im Gesamtinteresse der Volkswirtschaft und der Nation liegende 
Schutz gegen die erdrückende Preiskonkurrenz des noch schwach bevölkerten und extensiv 
wirtschaftenden Auslands und gegen die Folgen der die Fernfrachten vermindernden 
Entwicklung des Kommunikations- und Transportwesens, zu Land und namentlich auch 
zu Wasser, gewährt worden. An dieser internationalen Handels- und Tarifpoltik ist, 
abgesehen von der Schwankung zu Caprivis Zeit, trotz aller Gegnerschaft des reinen 
Konsumenteninteresses und des Freihändlertums, auch im letzten Vierteljahrhundert 
festgehalten worden, besonders im Zollgesetz 1902, einem Hauptpunkte der Bülowschen 
Kanzlerperiode. Und im ganzen mit Recht. Durch diesen in der ersten Reichsperiode 
seit 1879 eingeleiteten Agrarschutz mit seinen bedeutsamen Folgen, auch nach der finan- 
ziellen Seite, hat die gesamte deutsche Wirtschaftspolitik ihren eigentümlichen Charakter 
einer konsequenten Verbindung wirtschaftsfreiheitlicher und regulierender und schützen- 
der Momente auch bis zur Gegenwart behalten. Die tatsächliche Gesamtentwicklung 
des deutschen Wirtschaftslebens zeigt, daß das zu seinem Segen war. 
Ob die VBerkehrsfreiheit in Grundbesitzwechsel in Land und Stadt, ob die Ver- 
schuldungsfreiheit, ob die Kauf-, Pacht- und Mietpreiefreiheit nicht manche bedenkliche 
Folgen gezeigt haben, die Spekulation in landschaftlichem und städtischem Grundbesitz 
nicht manche Schäden allgemein volkswirtschaftlicher und sozialer, damit auch politischer 
Bedeutung hervorgerufen hat, ob hier nicht namentlich seit den höheren Agrarschutz- 
zöllen der Besitzwechsel der ländlichen Großgüter und die Preissteigerung dabei zu 
groß, rasch und schädlich geworden, der Auskauf von Bauernland durch Großgrund- 
besitz und neuerworbenes bewegliches Kapital nicht zu umfassend geworden ist, taucht 
dabei freilich als eine kaum zu verneinende Frage auf. Die Gesetzgebung ist demgegenüber 
bisher untätig geblieben, bis auf die Steuergesetzgebung und Steuerveranlagungspraxis, 
die in der Entwicklung der Wertzuwachssteuer und der Besteuerung nach dem gemeinen 
Werte, allerdings hier auch mit den volkswirtschaftlichen Folgen dieser Besteuerungen, 
neue Wege vorsichtig einzuschlagen begonnen hat. Dadurch ist tatsächlich, wenn auch 
biöher kaum klar bewußt, auch in diesem Punkte die betreffende Besteuerung in sozial- 
politische Wege mit hinübergeführt worden. Hier liegen noch weitere Aufgaben für die 
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