Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
132 Die chemische Industrie. VI. Buch. 
Bitriolöl, Salzsäure und Salpetersäure, ferner Schwefel, Ultramarin und andere Farb- 
stoffe erstreckte. Die Chemie lag damals ausschließlich in den Händen von Arzten und 
Apothekern oder von Goldmachern, Betrügern und Selbstbetrügern und hatte öfters 
einen Anstrich von Zauberei und Charlatanerie. 
Erst dem Ende des achtzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert war es vor- 
behalten, die schwarze Kunst zur Wissenschaft zu erheben, welche nunmehr fest- 
stellt, daß bei der Umformung der Stoffe und der Kräfte kein Atom und keine Energie 
verloren geht, daß es in der Natur nur eine Wahrheit gibt und daß ein unter denselben 
Bedingungen angestellter Versuch stets dieselben Resultate liefert. 
Diese besonders durch die Forscher Lavoisier, Scheele, Priestley, Richter und 
Dalton begründete und durch Berzelius, Liebig, Wöhler, Bunsen, Kolbe, A. W. Hof- 
mann und Aug. Kekulé ausgebaute Wissenschaft konnte nun als sichere, vertrauens- 
würdige Führerin für das chemische Gewerbe auftreten. Sie zeigte den Weg, zufällig 
gemachte Entdeckungen richtig zu deuten und zielbewußt zu erfolgreichen Erfindungen 
auszubauen. 
Aber noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war in Deutschland die chemische 
Zudustrie llein und kümmerlich gegenüber der schon damals in England und Frankreich 
vorhandenen. Damals ezistierten in Preußen nur etwa 260 chemische Betriebe mit 
zusammen 3500 Arbeitern. Die im Jahre 1861 veranstaltete Gewerbezählung des Zoll- 
vereins ermittelte, daß in 1480 chemischen Fabriken (Koks- und Gasanstalten, Chemi- 
kalien- und Farbenfabriken, Fabriken von Zündwaren, Seifen und Paraffin) zirka 
24 000 Arbeiter beschäftigt waren. Deutschland war damals ein überwiegend agrarischer 
Staat, welcher sich fast nur auf die Erträge der Landwirtschaft und Forstwirtschaft stützte. 
Umschwung im letzten Ein vollständiger Umschwung dieser Verhältnisse ist erst 
Vlertelsahrhundert. mit der Gründung des Deutschen Reiches einge- 
treten, namentlich im letzten Vierteljahrhundert, so daß 
Heutschland sich immer mehr und mehr zum Industrieftaat zu entwickeln beginnt. 
Zm Jahre 1894 waren in den 5758 chemischen Betrieben Deutschlands bereits 
110 348 Arbeiter und erhielten 98 621 5056 M. an Löhnen. Bis zum Jahre 1912 ist 
die Zahl der Betriebe auf 9147, die Zahl der darin beschäftigten Vollarbeiter auf 249 819 
und die Zahl der Einzelarbeiter auf 472 596 gestiegen. An Löhnen und Gehältern wurden 
in diesem Jahre 324 712 477 M. gezahlt. Für Unfallentschädigungen wurden 3 198 398 
Mark verausgabt. 
Diese Zahlen beweisen deutlich genug, in welchem außerordentlichen Maße die 
Arbeitskräfte zugenommen haben, die zurzeit in der chemischen Industrie tätig 
sind, und zeigen damit auch deren beispiellose Entwickelung in verhältnismäßig kurzer Zeit. 
Das konnte aber nur dadurch geschehen, daß die moderne chemische Industrie sich 
nicht allein bei allen Maßnahmen auf ihre eigene Wissenschaft stützte, sondern sich auch 
sonst alles zunutze machte, was die moderne Wissenschaft und Technik in verwandten 
Fächern leistet. Dem weitschauenden Blick des deutschen Kaufmanns war es dann vor- 
behalten, die Ergebnisse in erfolgreiche Bahnen zu leiten. 
  
  
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