Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Oie chemische Indugtrie. 143 
zu beziehen, ist es heute infolge seiner großen Koksfabrikation und der dabei als Neben- 
produkt auftretenden großen Teermengen vollständig vom Auslande unabhängig 
geworden. HOeutschland erzeugt heute in seinen Kokereien und Leuchtgasanstalten 
allein soviel Teer, nämlich etwa 1,2 Mill. Tonnen, wie die ganze Welt zusammen vor 
25 Jahren. 
ODie 7 oben zuerst genannten Teerbestandteile werden nun in den 70 Farbenfa- 
briken, welche auf der Welt existieren, und von welchen sich die bedeutendsten in Deutsch- 
land befinden, auf Farbstoffe verarbeitet, deren Wert heute in Deutschland an 300 Mill. 
Mark betragen dürfte. 
Wissenschaftliche Es besteht darüber kein Zweifel, daß die beispiellose Ent- 
Tätigkeit. wickelung dieser Industrie in dem Zeitraume von kaum 
— 60 Zahren aus den allerbescheidensten Anfängen zu ihrer jetzi- 
gen Höhe nur dadurch erfolgt ist, daß sie sich von Anbeginn auf die Wissenschaft 
stützte und sich deren Resultate zunutze machte. 
So sind denn auch die ersten Erfindungen auf diesem Gebiete, die des Mauvelns 
und des Fuchsins (Anilinrots), die des künstlichen Alizarins, des Eosins und der ##jzo- 
farbstoffe, welche bereits vor 1888 bekannt waren, in wissenschaftlichen Laboratorien 
aus rein wissenschaftlichen Erwägungen heraus hervorgegangen. 
Und dae ist heute in noch viel größerem Maße der Fall, denn jede Teerfarben-- 
fabrik hat wissenschaftliche TChemiker in ihrem Oienste. In jeder der größeren 
Fabriken Deutschlands sind 200 bis 300 und mehr an der Arbeit. Ein Teil dieser 
Chemiker hat die Aufgabe, die oft sehr komplizierten Prozesse der Farbstoffbildung aus 
den farblosen Teerbestandteilen zu verfolgen und bis zum verkaufsfähigen Endprodukt 
zu führen. Andere müssen die von auswärts eingehenden Rohstoffe oder die Produkte 
der eigenen Firma untersuchen und kontrollieren. 
Ein weiterer Teil dieser Chemiker hat die ganz besondere Aufgabe, die neuesten 
Resultate der Wissenschaft zu studieren und neue Erfindungen zu machen. # 
Um das zu ermöglichen, stehen diesen Chemikern vortrefflich eingerichtete Labora-- 
torien, große Bibliotheken und reiche Mittel zur Verfügung. 
Der Erfolg, welchen diese Industrie erzielte, indem sie zielbewußt auf dem bisher 
eingeschlagenen Wege fortschritt, hat bewiesen, daß dieser Weg der richtige war. 
Täglich tauchen bei einer derartig intensiven Arbeit neue Erfindungen und 
deren Produkte auf. Von letzteren haben viele nur ein ephemeres Dasein, da sie bald 
durch ein eigenes, bald durch ein Produkt der Konkurrenz überholt werden. Es mögen 
heute vielleicht an 2000 Einzelindividuen und damit hergestellte Hunderttausende von 
Mischungen vorhanden sein. Aber von Anbeginn an ist ein gewisser Bestand der alten 
Farbstoffe geblieben, wie das Fuchsin aus dem Jahre 1858, wenn es heute auch längst 
nach einem ganz anderen Verfahren als vor 55 Jahren hergestellt wird. 
Oas deutsche Patentgesetz, welches bei chemischen Produkten nicht das Produkt 
selbst, sondern das Herstellungsverfahren schützt, hat naturgemäß die Erfindertätig- 
keit in höchstem Maße angespornt. Sobald ein gutes Produkt der Konkurrenz auftaucht, 
  
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