Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Cextilindustrie. 149 
  
fuhrhäfen gelangen. Amerika wiederum gewinnt die hauptsächlichsten Rohmaterialien 
im eigenen Lande, so die Baumwolle ganz und die Wolle größtenteils, während Deutsch- 
land die Baumwolle ganz und die Wolle größtenteils vom Auslande beziehen muß. 
Es werden daher gewaltige Anstrengungen notwendig sein, um die jetzige Stellung auf 
dem Weltmarkt zu behaupten. Die sich aus den günstigen geographischen Verhält- 
nissen ergebenden Vorteile können nur durch die Lieferung billigerer oder besserer Waren 
wettgemacht werden. 
Man wird aber getrost in die Zukunft blicken können, wenn man sich vergegen- 
wärtigt, welche wichtige Rolle deutsche Erfinder bei allen neuen Errungenschaften und 
Fortschritten auf dem Gebiete der Textilindustrie gespielt haben. 
Die größten Umwandlungen haben wohl auf dem Gebiete der Ver- 
edelungsindustrie stattgefunden. Die Kunstseidenfabrikation, die Merceri- 
sation und die gleiche Ziele verfolgende Behandlung der Baumwolle durch den so- 
genannten Seidenfinish und die Erfolge, die bei der Herstellung schöner und echter 
Farben erzielt worden sind, haben der Textilindustrie vollkommen neue Wege ge- 
wiesen und überall waren deutsche Wissenschaftler und Techniker hervorragend be- 
teiligt. 
Kunstseide, Glanzstoff, Viskoseseide. Der Gedanke, Kunstseide zu rzeugen, 
also den Prozeß des Seidenspinners auf 
künstlichem Wege nachzuahmen, ist schon im 18. Fahrhundert von dem Chemiker Réaumur 
angeregt worden. Graf Hilaire de Chardonnet in Besangon hat den Gedanken in die 
Tat umgesetzt und erhielt im Jahre 1885 das erste Patent auf die Herstellung künstlicher 
Seide. Zum Verspinnen benutzte er das von dem deutschen Chemiker Schönbein im 
Jahre 1846 durch Einwirkung von Salpetersäure auf Zellulose zuerst dargestellte Kollo- 
dium oder die sogenannte Nitrozellulose. Die #itrokunftseide ist somit das älteste der 
im Handel befindlichen Kunstseidenprodukte. Auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 
1889 konnte Chardonnet die ersten Proben seiner Kunstseide ausstellen und das Ver- 
fahren der Herstellung vorführen. Praktische Verwendung fand die Kunstseide erst vom 
Zahre 1890 ab, nachdem es TChardonnet gelungen war, seinem Fabrikate die hohe Feuer- 
gefährlichkeit zu nehmen und das Verfahren durch Dr. Lehner in Augsburg verbessert 
worden war. Die nach dem Chardonnetschen Verfahren begründeten deutschen Kunst- 
seidenfabriken vermochten im Anfange ihres Bestehens nur wenige Kilogramm pro 
Tag herzustellen. Die Produktionsmöglichkeit erfuhr eine rasche Steigerung, im Zahre 
1908 betrug sie 2000—3000 kg pro Tag. Bei einem Selbstkostenpreis von 12—14 M. 
ergab diese Fabrikation der deutschen Volkswirtschaft einen ganz erheblichen Autzen, 
der sich vor allem auch in den hohen Oividenden der beteiligten Fabriken zeigte. In 
den letzten Jahren weist die Industrie der Nitrokunstseide eine stark rückschreitende Ten- 
denz auf und ist zum größten Teile schon ganz eingegangen. Der Grund hierfür liegt 
in den hohen Preisen des für dieses Verfahren benötigten Alkohols und Athers und 
in dem Umstande, daß es gelang, Kunstseide ohne Berwendung von Alkohol und Tther 
durch Auflösen von Zellulose in einer konzentrierten Lösung von Kupferoxpdammoniak 
  
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