Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

Die deutsche Landwirtschaft 
Von Dr. Graf von Schwerin--Löwig, 
Wirklicher Geheimer Rat, Präsident des Deutschen Landwirtschaftsrats 
Rücblic. Der Regierungsantritt unseres gegenwärtigen Kaisers fällt in eine Zeit, in 
—— — welcher —durch die landwirtschaftliche Erschließung weiter fruchtbarer Neu- 
länder in fernen Erdteilen — bei einer verhältnismäßig noch schwachen Bevölkerung dieser 
Länder und einer gleichzeitigen beispiellosen Berbilligung aller Seefrachten — dem deut- 
schen Getreidebau eine so übermächtige Konkurrenz erwachsen war, wie nie zuvor. — An 
den maßgebendsten Stellen — ja in der landwirtschaftlichen Verwaltung selbst — bin ich 
damals der Ansicht begegnet, daß gegenüber einer so übermächtigen Konkurrenz — einem 
so massenhaften und billigen Getreideangebot aus allen Weltteilen (Nord- und Südamerika, 
Indien, dem südlichen Rußland, den Balkanstaaten usw.) — wie es damals unseren Markt 
überschwemmte, — der deutsche Getreidebau sich in dem bisherigen Umfange nicht 
werde aufrechterhalten lassen. — Auch auf dem viel fruchtbareren und klimatisch 
begünstigten Boden Englands sei dies nicht möglich gewesen. Es werde auch der deut- 
schen Landwirtschaft auf die Dauer nichts anderes übrig bleiben, als den Getreide- 
bau nur auf die besten und ertragreichsten Böden zu beschränken, —in den feuchteren 
Lagen sich auf eine intensive Biehzucht zu verlegen, die leichteren Böden des Ostens 
aber wieder der Kiefer zu überlassen, für welche sie von der Natur bestimmt seien. 
Dies, wie gesagt, die Meinung weitester und maßgebenster Kreise nach dem 
Rücktritt des Fürsten Bismarck! — Der zweite Reichskanzler war logisch vollkommen 
berechtigt, aus dieser bei ihm besonders festgewurzelten Anschauung heraus, den 
Landwirten den Nat zu erteilen, sich mit der veränderten Weltlage abzufinden und 
in Konsequenz dieser Sachlage den Wert ihres Bodens und ihrer Betriebe entsprechend 
"Oherunterzuschreiben“. 
Was were aus der deutschen Landwirtschaft — jal was wäre aus dem Deutschen 
Reich — aus seiner Volksernährung und aus seiner Verteidigungsfähigkeit 
bei der heutigen Weltlage geworden, wenn die deutschen Landwirte diesen — 
gewiß ehrlich gemeinten — Ratschlägen gefolgt wären? 
Unsere Lage im Herzen Europas — umgeben von mißgünstigen Feinden, würde 
heute aufs Haar der einer ausgehungerten oder — trotz aller militärischer Mittel — 
der sicheren Aushungerung verfallenen Festung gleichen. 
Aun, glücklicherweise war die Liebe der deutschen Landwirte zu ihrer angestammten 
Scholle und ihre Zähigkeit — auch in schwerster Notlage — stärker als die wirtschafts- 
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