Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Oie Gesamtentwicklung der deutschen Zndustrie. 201 
  
der Arbeitsorganisation. Vor allem braucht sie Menschen und Geld. Die beträchtlichen 
Möglichkeiten der Verwertung, die sie beiden bietet, bewirken, daß sie ihr reichlich zu- 
strömen. Ersparnisse werden von ihr aufs fruchtbringendste ausgenutzt. Uber Reichtums- 
und Bevölkerungsvermehrung hinaus ist ihre Wirkung die, daß sie im Lande eine A#r- 
beitsrührigkeit ohnegleichen erzeugt. Damit erhält auch das Dasein der Massen einen 
größeren Inhalt; die Hoffnung, voranzukommen und sozial zu steigen, spannt die Energie 
an. Besonders kann sich nun die Unternehmungeslust der begabten und tatkräftigen 
N#sturen in reicherem Maße entfalten. Industrie ist Leben und Bewegung, Handeln 
und Schaffen. Sicherlich fehlen in diesem Bilde nicht die Schatten, und eine Industrie- 
entwicklung, die derart zum nationalen Selbstzweck würde, daß die übrigen Seiten des 
Volkslebens dabei verkümmerten, wäre ein schlechter Kulturboden. Sie ist überhaupt 
noch nicht Kultur selbst, sondern in ihrem menschen- und güterschaffenden Wesen nur 
eine Voraussetzung und Möglichkeit für sie. Sie ist die rasche Welle, die das Schiff trägt. 
Ob dieses Schiff mit Kulturgütern oder mit Ballast befrachtet ist, hängt von anderen 
Umständen ab. Sie vermag auch nicht jenes unmittelbare und intime Menschenglück 
zu gewähren, das die enge Berührung mit der Natur und dem Boden dem Landmann 
geben kann. Wenn man aber unter moderner Kultur VBielseitigkeit des Erlebens und 
Schaffensfreude versteht, so wird man sie sich ohne die Voraussetzung der Industrie 
nicht denken können. In den letzten 25 Jahren hat lebhaftester #rbeitseif###und wirt- 
schaftliche NRegsamkeit Deutschland erfüllt. Wer darin ein SElück sieht, wird es in erster 
Linie der Industrie und ihrem mit ihr engverbundenen Bruder, dem Handel, danken. 
Oer industrielle Aufschwung. Sehen wir von der Tatsache aus, daß die 
Zahre 1888 bis 1913 eine Periode des starken 
Aufschwungs der Industrie und damit der Kulturmöglichkeiten Deutschlands waren, 
so wird es sich weiter darum handeln zu untersuchen, ob sich bestimmte Merkmale dieses 
industriellen Aufschwungs feststellen lassen, die ihn von früheren Zeitabschnitten unter- 
scheiden: Die Großindustrie ist in der Hauptsache ein Kind des 19. Zahrhunderts. Ee ist 
oft geschildert worden, wie an seinem Anfange die landwirtschaftlich tätige Bevölkerung 
völlig überwog, auch der städtische Familienhaushalt in ausgedehntem Grade auf Eigen- 
produktion beruhte, wie das Gewerbe in der Hauptsache in Handwerk und Hausindustrie 
bestand. Freilich sind schon vom 15. bis 17. Jahrhunderte auch größere Bergwerke, 
Salinen und Hütten vorhanden gewesen; in der Textilindustrie hat sich von jeher, soweit 
sie nicht hausindustriell betrieben wurde, eine Tendenz zum Mittelbetriebe gezeigt. 
Im 18. Jahrhunderte wurden die Manufakturen, über das Handwerk hinausragende 
Werkstätten, in denen eine größere Arbeiterzahl arbeitsteilig beschäftigt war und konsum- 
bereite Fertigwaren herstellte, von Regierung und Behörden lebhaft gefördert und durch 
besondere Privilegien außerhalb des Zunftzwanges gestellt. Im ganzen aber ist es 
richtig, wenn man den Beginn des 19. Jahrhunderts seinen gewerblichen Unternehmungs-- 
sormen nach als mittelalterlich bezeichnet. In der ersten Hälfte des vergangenen Fahr- 
hunderts wurden danach die großen staatlichen und kulturellen Grundlagen einer groß- 
industriellen Entwicklung geschaffen: der Grundsatz der Gewerbefreiheit legte das recht- 
  
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