Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
206 Die Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. VI. Buch. 
  
schritt so geordnet und gleichmäßig vollzogen hat. So heftig bisweilen der Wettbewerb 
war, so fehlte es eben auch nicht an gegenseitiger Förderung und ergänzender Organi- 
sation. Wir glauben: gerade umgekehrt, als es von Gegnern des „Kapitalismus“ behaup- 
tet wird, hätte eher die genossenschaftliche Produktion, wenn sie die ganze Großindusftrie 
ergriffen hätte, zur Anarchie geführt, weil ihr die den morgigen Tag vorauserkennende 
Spekulation fehlt, weil sie nicht so schnell neuue Wege findet, sich nicht an plötzliche Bedarfs-- 
steigerungen anpassen kann, zu wenig riskiert und zu wenig fruchtbare Ideen hat. Die 
eigentliche Geschäftstüchtigkeit des Kaufmanns ist einer der wertvollsten Produktions- 
faktoren. Sie entscheidet viel mehr über das Gelingen von Produktion und Handel 
als die bloße Menge des Kapitals. Weniger die Tatsache, daß die Kapitalien so stark 
wuchsen, als der Umstand, daß sie so gründlich ausgenutzt wurden, ist charakteristisch. 
Will man das Wesen der deutschen Industrie richtig erfassen, so muß man beide 
Kräfte als Elemente des Fortschritts hervorheben: Kapital und persfönliche Tüch- 
tigke#i#t: aller Unternehmungsgeist hätte nicht das großartige Ergebnis der jüngsten 
Vergangenheit zeitigen können, wenn nicht die Anhäufung der Kapitalien in den Abktien- 
gesellschaften und die großen Kredite der Banken vorhanden gewesen wären, und wenn 
es nicht gelungen wäre, Handarbeit, Technik und Bodenausnutzung ganz in den Dienst 
des erwerbswirtschaftlichen Kapitals zu stellen, also das, was man die kapitalistische 
Wirtschaftsordnung nennt, zu schaffen. Zugleich aber erkennt man rückblickend — mag 
man nun die deutsche Gesamtentwicklung studieren oder in Einzeluntersuchungen eine 
bestimmte Industrie untersuchen — daß auch im Wirtschaftsleben „Männer die Geschichte 
machen“. ch kann darüber nur das wiederholen, was ich an anderer Stellet) auszu- 
führen versucht habe: „So sehr die gewerbliche Großunternehmung (wie des Handels) 
vom erwerbswirtschaftlichen Geiste beherrscht ist und große Geldkapitalien (oft im Wege 
des Kredits) die Voraussetzung für ihr Gedeihen bilden, so ist doch der bloße geldwirt- 
schaftliche Geist nicht ausreichend; vielmehr bilden Wagemut, Organisationsfähigkeit, 
Sachkenntnis, die Kunst der richtigen Menschenbehandlung, Solidität und Wirklichkeits- 
sinn nicht minder wichtige Faktoren. Den Bedarf aufspüren, ihn wecken, eigene Ent- 
schließung fassen, anderen zuvorkommen, Ideen in energische und schnelle Taten um- 
setzen, darauf kommt es an.“ Daß aber diese Fähigkeiten im allgemeinen so häufig und 
stark vorhanden waren, hat zum Gelingen wesentlich beigetragen. 
Das zweite ist die Uberlegenheit des „größeren Werkes“. ODamit soll nicht behauptet 
werden, daß in allen Branchen und an allen Orten je größer die Zahl der beschäftigten 
Menschen oder der mechanischen Pferdekräfte oder der Produktionsziffern, desto größer 
auch der Erfolg gewesen sei. Bielmehr gibt es bestimmte Geschäftszweige — besonders 
solche, deren Erzeugnisse stark der Mode unterworfen sind —, in denen der größere Mittel- 
betrieb bestimmte Vorteile bietet. Im ganzen aber ist schon die rein technische Über-- 
legenheit des Großbetriebs über den Klein- und Mittelbetrieb in den letzten Zahrzehnten 
zu beobachten gewesen. Wieder ist es ein Zusammenwirken mehrerer Umstände und die 
wechselseitige Befruchtung verschiedener Elemente, die das günstige Ergebnis zeitigten: 
Großmaschinentechnik, Großbetriebsorganisation mit zweckmäßig gestalteter Arbeits- 
) Vgl. v. Wiese, Wirtschaft und Recht der Gegenwart, Bd. I. S. 210. 
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