220 Die Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. VI. Buch.
in der chemischen, fast ganz in der Nahrungsmittelindustrie — um Erzeugung von Kon-
sumartikeln handelt, bildet die Industriegruppe ein so in sich geschlossenes Produktions--
gebiet, daß eine Aussonderung aus der formenreichen Gruppe der genußbereiten Fertig-
warengewerbe zweckmäßig schien. Außerhalb der bisherigen Harstellung liegen jedoch
noch zahlreiche Geschäftszweige, die nicht minder zur industriellen Blüte beigetragen haben.
Ihnen allen die ihnen an sich gebührende Berücksichtigung in diesem Werke zuteil werden
zu lassen, ist wegen ihrer unübersehbaren Mannigfaltigkeit unmöglich. Es wird gleich
noch zu zeigen sein, daß die Fertigwarenindustrie in ihrer Differenziertheit einer ein-
heitlichen Zusammenfassung, wie sie bei der Produktion der Roh- und Hilfsstoffe mög-
lich ist, widersteht. Indessen soll im folgenden doch noch der Versuch gemacht werden,
wenigstens einige Streiflichter auf dieses Gebiet zu werfen, um kein einseitiges und un-
vollständiges Bild der industriellen Entwicklung Deutschlands zu geben.
Es wurde oben schon angedeutet, daß die im modernen Deutschland bestehende,
ziemlich scharf durchgeführte Sonderung der Roh- und Halbstoffindustrie einerseits,
der Fertigwarenindustrie andrerseits zu den Hauptmerkmalen der jüngsten Entwicklung
gehört. Das Verhältnis der ersten zur zweiten Gruppe hat sich dabei fast in sein Gegen-
teil gewandelt: in den älteren Zeiten — etwa bis zum Ausgange der 80er Jahre — als
die konkurrenzbeschränkenden Verbände noch fast ganz fehlten, war die Lage der Roh-
stoffproduktion im allgemeinen schwieriger als die der Fertigwarenindustrie; ihre Gewinne
blieben vielfach stark hinter der Rentabilität der letzteren zurück. Darüber schrieb ich vor
einigen Zahren: „Der Konsument sieht gewöhnlich die Naturschätze als ein selbstverständ-
liches, höchst billiges Gut an und schätzt den zu bezahlenden Wert der Arbeit an einer
Ware um so höher ein, je mehr sie der künstlichen Bearbeitung unterworfen wurde.
Wie also diejenigen, welche die erste rohe Bearbeitung des Naturproduktes vornehmen,
eine für alle nachfolgenden Abnehmer höchst notwendige und diesen daher ganz selbst-
verständlich erscheinende Arbeit verrichten, so sind die Weiterverarbeiter nur zu sehr ge-
neigt, alle Last auf das Rohstoffgewerbe abzuwälzen und die größten Ansprüche an das-
selbe zu stellen. So befand sich die Kohlenindustrie jahrzehntelang in der schwierigsten
Lage. Alle Welt rief: Was sollen wir machen, wenn du uns nicht billige und gute Kohle
lieferst? Wir zwingen dich mit allen Mitteln; denn es ist eine Lebensfrage für uns,
daß wir billige Kohle erhalten. Einen großen Bundesgenossen fanden die Abnehmer
in der Konkurrenz der Rohstoffproduzenten untereinander. Ganz anders werden aber
die Verhältnisse, wenn diese sich organisieren und im Bewußtsein ihrer bis dahin latenten
Macht die Preise kommandieren. An Stelle der niedrigen Gewinne treten nun viel
höhere, als sie die Hersteller von Fertigwaren erreichen können, da es für diese ja
aus naheliegenden Gründen viel schwerer ist, sich zu organisieren, und sie die Rohstoffe
unter allen Umständen abnehmen müssen, wenn sie überhaupt fabrizieren wollen.“1)
In der Tat hat die Entwicklung in Deutschland auch diesen Verlauf genommen. Die
Kartelle und Syndikate, Interessengemeinschaften, Fusionen und Trusts der schweren
Industrie wurden immer einflußreicher auf dem Markte, die Fertigwarenproduzenten
immer abhängiger. Die Natur ihrer Produkte erleichterte den Unternehmern der schweren
1) Dgl. Schmollers Zahrbuch, 24. hrgg., 1. Heft, S. 301 u. 302.
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