Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
224 Die Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. VI. Buch. 
  
allmählich ein Werk geschaffen haben, das sich einen immer weiteren Absatzkreis ver- 
schafft pbat. Nur dort, wo zuvor solche „Erstlinge“ als Kristallisationspunkte für andere 
Gewerbezweige dienen konnten, traten die sachlichen Bedingungen mehr hervor. Das 
Ergebnis kann Huber in den Worten zusammenfassen: „Die Industriebezirke und -plätze 
sind lebendige Zeugen der Gesamtentwicklung, die den Vergleich mit ausländischen IZn- 
dustriestaaten, sogar mit England und den Vereinigten Staaten, recht wohl aushält 
und die analoge Entwicklung in Frankreich, Belgien, Holland und der Schweiz hinter 
sich gelassen hat“ (S. 61). 
Noch intensiver als in Württemberg hat sich die Industrialisierung im Königreich 
Sachsen vollzogen). Ist doch das „Königreich Sachsen innerhalb Deutschlands der in- 
dustriell am weitesten vorgeschrittene Bundesstaat und neben Belgien wohl der in- 
dustriellste Staat der Welt. Es steht mit 59,3 % im Hauptberufe der Industrie angehörigen 
Einwohnern an erster Stelle, da selbst die industrielle Provinz Westfalen nur 58,95%, 
und das industriell stark entwickelte Thüringen 51,82% erreicht haben“ (März). Dabei 
verteilt sich die Industrie über das ganze Land ziemlich gleichmäßig und hat sich in Stadt 
und Horf, im Gebirge wie in den Flußtälern angesiedelt. So alt einige Zweige wie die 
Lausitzer Leinenweberei, die Zinngießerei, die Chemnitzer Baumwollweberei und die 
Schleierfabrikation von Plauen sein mögen, so gehören doch die meisten Indusftrien 
erst der Zeit nach 1850 an. Viele Betriebe verdanken auch in Sachsen erst den letzten 
25 Jahren ihre Entstehung. Aberaus vielseitig ist diese sächsische Industrie entwickelt. 
Auch darin charakterisiert sie sich als Verfeinerungsgewerbe, daß sich die Riesenbetriebe, 
wie sie Rheinland-Westfalen, Oberschlesien und andere Gebiete der Schwerindustrie 
aufweisen, nur ausnahmsweise vorfinden, dagegen die mittleren Werke zahlreich sind. 
Nach der Zählung vom 1. Mai 1911 bestanden in Sachsen 30 623 Fabriken mit 757 518 Ar- 
beitern; davon hatten 147 Betriebe 500 oder mehr Arbeiter, nämlich zusammen 128 303 
Personen. Die erste Stelle hat die Textilindustrie mit 6908 Betrieben und 246 069 T.r-- 
beitern; dann folgt der Arbeiterzahl nach die Industrie der Maschinen, Instrumente 
und Apparate, weiter die Metallverarbeitung, die Bekleidungeindustrie, die der Steine 
und Erden, der Nahrungs- und Genußmittel und schließlich der Holz- und Schnitzstoffe. 
Von 1895 bis 1907 haben sich in Sachsen die Betriebe um 20,1% , die in ihnen beschäf- 
tigten Personen um 39% vermehrt. Für die starke Industrialisierung des Landes kommen 
die vorhandenen Schätze an Kohle und Erz nur in beschränktem Grade als Ursachen in 
Betracht. Bielmehr müssen viele Roh- und Hilfsstoffe in beträchtlichen Mengen in 
dieses Gebiet der Verfeinerungeindustrie, in dem fast jedes Dorf sein Gewerbe besitzt, 
eingeführt werden. Die geistige Regsamkeit und der Kopfreichtum, sowie der überkom- 
mene Wohlstand der Bevölkerung haben zu dieser sich immer mehr beschleunigenden 
Industrialisierung mindestens ebensoviel beigetragen wie die zentrale Lage, die zahl- 
reichen Wasserkräfte und schiffbaren Flüsse des Königreichs. 
1) Vgl. die „Festschrift zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Verbandes Sächsischer Industrieller“ 
Dresden 1912 (zu beziehen durch den Verband); ferner die Zeitschrift dieser Vereinigung „Sächsische Induftrie“. 
Wertvoll ist auch der Vortrag Dr. März', „Sachsens Industrie“, gehalten im Dresdener Bezirksverein Deutscher 
##ungenleure am 10. Ipril 1913. Er wurde für die obigen Darlegungen in erster Linie benutzt. 
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