VI. Buch. Die Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. 231
zeitig die oben erwähnte Entstehung der Kautschukplantagen in Südostasien neue Material-
duellen erschloß. Die Gummüindustrie könnte geradezu ein Schulbeispiel für den Zusam-
menhang zwischen industriellem Aufschwunge und der Gesamtentwicklung der Nation
bilden: die überseeischen Beziehungen, die Ausgestaltung des Transportwesens, der
Fortschritt der Chemie und Physik als der wissenschaftlichen Grundlagen der Technik,
die Konsumsteigerung durch Bevölkerungswachstum und Wohlstandsmehrung — alles
das findet sein Widerspiel in der Entfaltung dieser interessanten Industrie, die mit an
erster Stelle genannt zu werden verdient. In dem fesselnden Wettkampf der deutschen
„Continental“ mit der britischen Firma „Dunlop“ und der französischen „Wichelet"“
auf dem Markte für Pneumatikreifen erkennen wir das Vordringen Deutschlands in
der Weltwirtschaft. Das Anwachsen der führenden deutschen Werke geht geradezu
parallel dem nationalen Aufschwunge. Deshalb mag es gestattet sein, das eine oder
andere aus der Entwicklung einiger Firmen (auf der Grundlage ihrer eigenen Angaben)
hier noch mitzuteilen).
Die „Hannoversche Gummi-Kamm Co., A.-G.“ erzählt aus ihrer Geschichte, daß
sie im Jahre 1862 in einer bescheidenen Fabrik mit Hilfe von 80 Arbeitern und einer
Dampfmaschinenkraft von 6 PS. ihre ersten Kämme als ausschließlichen Fabrikations-
gegenstand herstellte. Sehr bald mußte die Produktion aller möglichen anderen Artikel
aufgenommen werden; 1890 war die Arbeiterzahl auf 700 Personen und die Maschinen-
leistung auf 500 PS. angewachsen. Nach 1895 nahm der neue Preßluftreifen für Fahr-
räder (der „Excelsior“-Pneumatik) „seinen Weg auf allen Landstraßen und Rennbahnen“.
Ein neues Fabrikgrundstück von 60 0O00 cm mußte gekauft und bebaut werden. 1906
nötigte die Autoreifenfabrikation zu größeren Erweiterungsbauten. 1911 waren mehr
als 3500 Personen unter Ausnutzung einer maschinellen Energie von 5000 PS. tätig.
Unter den großen Firmen dieses Industriezweiges befindet sich auch ein Unter-
nehmen, das älter ist als die ganze Branche: es sind die Kautschukwerke Dr. Heinr. Traun
& Söhne, vorm. Harburger Gummi-Kamm-Co. in Hamburg. Wie manche Häuser
aus älteren Industrien, etwa der Papierindustrie oder der Buchdruckerei, kann sich diese
Firma rühmen, durch vier Generationen im Privatbesitz derselben Familie geblieben zu
sein. Ihre Anfänge gehen bis zum Jahre 1818 zurück, wo Heinrich Christian Meyer
eine Drechslerei und Stockfabrik mit einem einzigen Gehilfen begründete. Zur Stock-
fabrikation gesellte er bald die Stuhlrohrherstellung; der Hafen mit seinen lockenden
überseeischen Beziehungen ermöglichte weitere Ausdehnungen der Zndustriezweige,
unter anderem auf die Fischbeinfabrikation. „Zm Jahre 1851“, so erzählt die Firma
in ihrer Geschichte, „brachte der Amerikaner Goodyear die erste Probe von elastischem
Hartkautschuk, hergestellt durch Erhitzen von Rohkautschuk mit Schwefel, in die Offent-
lichkeit und erregte besonders die Aufmerksamkeit der Fischbeinfabrikanten, da das neue
Produkt dem Fischbein sehr ähnliche Eigenschaften zeigte. Auch unsere Firma fabrizierte
(zunächst in ihrer amerikanischen Filiale) nunmehr künstliches Fischbein“ aus Hart-
kautschuk, gesellte aber bald darauf diesem Fabrikate die Herstellung von Hartkautschuk--
1) Auf Vollständigkeit kann dabei nicht gerechnet werden. Es gibt noch andere Werke, deren Be-
deutung ihre Hervorhebung rechtfertigen würde.
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