Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Der auswärtige Handel. 237 
  
an den Vorteilen jener Tarifbindungen teilnahm. Dieser für Deutschland günstige Zu- 
stand mußte aber im Jahre 1892 sein Ende erreichen, denn Frankreich, das Mittelpunkt 
dieses Vertragesystems war, zeigte gleichfalls ausgesprochene Neigung zu autonomer 
Handelspolitik und war entschlossen, die am 2. Februar 1892 ablaufenden Verträge 
nicht zu erneuern. Dieser Tatsache gegenüber war die handelspolitische Situation un- 
mittelbar nach Bismarcks Entlassung äußerst schwierig. Zwei Wege standen offen. Ent- 
weder konnte die Bismarcksche Absperrungspolitik fortgeführt, d. h. eine weitere Erhöhung 
der deutschen Zölle vorgenommen werden, oder aber es konnte der Versuch gemacht 
werden, auf die Erneuerung des Vertragsspstems hinzuwirken und durch eigene Be- 
teiligung auf seine künftige Gestaltung einen maßgebenden Einfluß zu üben. Die Ent- 
scheidung fiel in dem letzteren Sinne. 
Die Initiative zur Einleitung der neuen Handelspolitik ergriff Kaiser Wil- 
helm ll. in eigener Person. Bei der im Sommer des Jahres 1890 in Schlesien mit 
dem Kaiser von Österreich veranstalteten Zusammenkunft wurde im Hinblick auf das 
künftige handelspolitische Zusammenwirken eine grundsätzliche Ubereinstimmung erzielt. 
Oie unmittelbar darauf von Caprivi in Wien eingeleiteten Verhandlungen führten nach 
Uberwindung großer Schwierigkeiteen im Mai 1891 zum Abschluß eines Handelsvertrages. 
Oeutschland konzedierte die Herabsetzung des Zolls auf Weizen und Roggen von 5 M. 
auf M. 5,50, Hafer von 4 M. auf 2,80 M. und Gerste von 2,25 M. auf 2 M. Hazu traten 
deutscherseits Zollermäßigungen auf für die österreichische Ausfuhr wichtige Rohstoffe und 
Halbfabrikate, sowie das Anerbieten einer Veterinärkonvention. Österreich setzte seine 
Zölle auf Textilwaren um durchschnittlich 20% herab und willigte außerdem in die 
Ermäßigung seiner Zölle für Eisenwaren, Maschinen, Instrumente, Glas, Tonwaren usw. 
ein. Auf gleicher Basis wurden mit der Schweiz, Ztalien und Belgien Verhandlungen 
eingeleitet, die ebenfalls zum Abschluß von Verträgen führten. Sämtliche Verträge 
wurden dem Reichstag am 14. Dezember 1891 vorgelegt und von diesem nach heftiger 
Opposition der „Agrarier“ am 17. Dezember ohne Kommissionsberatung angenommen. 
Auch ein erheblicher Teil der Konservativen Hatte für sie votiert. In der Folge wurde 
das so geschaffene Vertragsgebiet erweitert durch Verträge mit Rumänien und Serbien 
und schließlich (1894) — nachdem zuvor ein Zollkrieg überwunden war — mit Rußland. 
##Sch diese Verträge fanden die Zustimmung des Reichstags; die Mehrheiten wurden 
jedoch ständig kleiner, und die Opposition nahm Formen an, die auf der rechten Seite 
des Reichstags bisher nicht üblich gewesen waren. Sämtliche Verträge hatten eine 
Gültigkeitsdauer bis zum Jahre 1904. 
Wardigung der ant Lurtei- zn rreea hondetspoitr 
auangen und gehen no e stark auseinander. 
Capriovischen Handelspolitik. Amprägnantesten für sie eingetreten ift Kaiser Wil- 
helm, der jener handelspolitischen Ara mit dem ganzen Schwergewichte kaiserlicher Macht 
zum Siege verhalf. „Ich glaube, daß die Tat, die durch Einleitung und Abschluß der 
Handelsverträge für alle Mit- und Nachwelt als eines der bedeutsamsten geschichtlichen 
Ereignisse dastehen wird, geradezu eine rettende zu nennen ist.“ Dies Wort des Kaisers 
  
  
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