VI. Buch. Der auswärtige Handel. 239
Konsequenz der Verschiebung des deut- Der eigentliche Grund für die Cap-
schen Wirtschaftslebens. rivische Dandelspolitik lag — abge-
sehen von den gewöhnlich über-
schätzten politischen Absichten und Rücksichten — wesentlich tiefer. Letzten Endes war
nämlich die Caprivische Handelspolitik nichts anderes als die Konsequenz
der Verschiebung des deutschen Wirtschaftslebens vom überwiegenden
Agrar- zum überwiegenden Industriestaat. Es galt, die schnell wachsende deutsche
Industrie vor den Folgewirkungen der vielfach schon eingetretenen und nach dem Jahre
1892 noch schärfer zum Auedruck kommenden Absperrungsmaßnahmen der als Aus-
fuhrgebiete hauptsächlich in Betracht kommenden Länder zu schützen. Dies und nichts
anderes ist als letztes Motiv hinter allen handelspolitischen Maßnahmen jener viel an-
gefeindeten Tra Caprivi wirksam gewesen. Aus welchen Gründen aber der Wille zu
industriefördernder Tätigkeit entstanden ist, hat Caprivi in seiner Reichstagsrede vom
10. Dezember 1891 eingehend dargelegt: „Lohnende Arbeit wird .., wenn diese Ver-
träge zur Perfektion kommen, gefunden werden. Wir werden sie finden durch den Ex-
port; wir müssen exportieren: entweder wir exportieren Waren oder wir exportieren
Menschen. Mit dieser steigenden Bevölkerung ohne eine gleichmäßig zunehmende In-
dustrie sind wir nicht in der Lage, weiter zu leben.“ Die erschreckend hohen Auswanderer-
ziffern jener Zeit haben damals eine große Rolle gespielt. Von 1872 bis 1878 war die
Zahl der deutschen Auswanderer ständig gesunken: von 128 000 auf 25 000. Das Jahr
1879 aber bedeutete einen entscheidenden Wendepunkt in aufsteigender Richtung. Der
jetzt eintretende Wanderverlust ist so gravierend, daß er hier im einzelnen dargestellt sei.
Die Zahl der Auswanderer betrug:
180 35 888 188888ü 110 110
1880 117 097 18868 83 225
1881...... ... 220 902 1897 104 787
1882 203 385 188888 103 951
18888-Z 173 616 1880 96 070
188844 149 065 180898080800 ... 97 103
18992242 ... 120 0689
In der Zeit von 1872—79 hatte die Auswanderung sich im jährlichen Durchschnitt
auf 54 081 gestellt, in den Zahren 1880—1891 aber auf 131 625. Oer relative Rückgang
des Warenexportes hatte demnach in der Tat in einer starken Zunahme des Menschen-
exports sein Korrelat gefunden. Es lag auch ohne weiteres auf der Hand, daß diese un-
günstige Entwickelung sich künftig noch stärker ausprägen würde, wenn es nicht gelang,
der weiteren Zollerhöhung und willkürlichen Handhabung des Zolltarifs in andern
Staaten, auf deren Markt die deutsche Industrie angewiesen war, Einhalt zu tun.
Es ist nun aber anderseits keineswegs richtig, daß die in der Taprivischen Handels-
politik zum Ausdruck gekommene Industrieförderung in der Albbsicht geschehen sei, dies
auf Kosten der Landwirtschaft zu tun, daß gewissermaßen die Neigung bestanden habe,
das englische Beispiel zu befolgen und um des „Industrie- und Handelsstaates“ willen,
die Landwirtschaft fallen zu lassen. Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß einer Anzahl
von Mitgliedern der linken Parteien des Reichstages dies „Zdeal“ vorgeschwebt hat.
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