Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
244 Der auswärtige Handel. VI. Buch. 
  
oder aber durch eine feftstehende gleitende Skala, die sich automatisch dem Schutzbedürf- 
nis anpaßte. Ersteres ist heute mit Rücksicht auf das Ausland, dem damit beständig 
Anlaß zu Repressivmaßnahmen gegeben würde, gänzlich ausgeschlossen. Ob die glei- 
tende Skala dem Spostem der Tarifverträge, an welchem unter allen Umständen 
festzuhalten sein wird, einzugliedern ist oder ob tiefgreifende Anderungen der Getreide- 
preise auch künftig zu riskieren sind, wird Gegenstand eingehendster Erörterung bei künf- 
tiger Regelung der deutschen Handelspolitik sein müssen. 
In diesem Zusammenhang darf auch darauf hingewiesen werden, daß unter Caprivi 
eine ganze Anzahl von anderen die Landwirtschaft fördernden Maßnahmen zur Durch- 
führung gekommen oder doch begonnen worden sind. Um nur die wichtigsten anzudeuten: 
die Aufhebung des Identitätsnachweises, aus der sich das heutige Einfuhrscheinwesen 
entwickelte, die Abänderung des Unterstützungswohnsitzgesetzes, das Weingesetz von 1892, 
das Reichsviehseuchengesetz von 1894, die Schaffung von Landwirtschaftskammern in 
Preußen (1894), die Rentengutsgesetzgebung 1891, die Staatszuschüsse zur Förderung 
des Meliorationswesens und der Kleinbahnen, der Beginn der großen Reform der 
direkten Besteuerung durch Miquel, die auf die Berschuldung des Grundbesitzes weitest- 
gehende Rücksicht nahm und eine Steuerentlastung des platten Landes um 28½ Mill. 
Mark mit sich brachte. 
Welcher Art aber die parteipolitische Stellungnahme gegenüber der Dr#a Caprivi 
auch immer sein möge: solange es in Deutschland objektive Historiker gibt, wird in der 
Geschichtsschreibung des neudeutschen Wirtschafts- und Soziallebens der Name Caprivi 
einen ehrenvollen Klang behalten, wird man nicht vergessen, daß Kaiser und Kanzler 
in jener Zeit mit weitausschauendem Verständnis gegen eine Welt von Widerständen 
den ökonomischen und sozialen Triebkräften des neuen Deutschlands freie Bahn schufen. 
Hohenlohe. Im März des Jahres 1894 schied Caprivi aus dem Amt. Sein Nach-- 
— folger wurde Fürst Hohenlohe, der mit seinem Amt wieder die seit 
1892 losgelöste preußische Ministerpräsidentschaft vereinigte. Hohenlohe hat sich nie- 
mals in direkten Gegensatz zu der Handelspolitik seines Vorgängers gestellt, immerhin 
betonte er von vornherein sehr scharf, daß er „die Fürsorge für die Landwirtschaft für 
die dringendste Aufgabe der inneren Politik in den kommenden Zahren“ halte, „nach- 
dem die Maßnahmen der letztvergangenen Zeit ausschließlich Handel und Industrie zu- 
gute gekommen“ seien. Dementsprechend begann er in seiner wirtschaftspolitischen 
Gesetzgebung mit einer Reihe von landwirtschaftsfreundlichen Maßnahmen: die Er- 
neuerung der Ausfuhrprämien für Zucker, die Erhöhung der Zollsätze auf solche Artikel, 
die in den Vertragstarifen nicht gebunden waren, die Verstärkung der in Zollkriegen zur 
Verfügung stehenden Kampfmittel, die Einberufung einer internationalen Münzkonferenz 
zur Regelung der Währungsfrage (Doppelwährung), Verbot des Getreideterminhandels, 
das Margarinegesetz, das Zuckersteuergesetz von 1896, die Abänderungen der Brannt- 
weinbesteuerung, die Beschränkung der Zollkredite für Getreideimporteure, die Beseitigung 
zahlreicher Getreidetransitlager an der Ostgrenze (1896) usw. Hingegen lehnte Hohenlohe 
und mit ihm die überwältigende Mehrheit des Reichstages den sog. „Antrag Kanitz“ ab. 
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