Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Bankwesen. 297 
  
Mitteln arbeitet, als eigentlich wünschenswert ist. Bielfach werden bei uns neue 
Inrestitionen nicht aus Gewinnrücklagen finanziert, sondern durch Kapitalvermehrung 
und Kreditaufnahme. Serade bei unseren alten großen Einzelfirmen in der 
Industrie hat die Kraft darin gelegen, daß sie sich aus sich heraus durch die im 
Betriebe erzielten Gewinne und Ersparnisse vergrößert haben; das hat, namentlich im 
Westen des Reiches, die großen Bermögen geschaffen. In der später entwickelten Aktien- 
industrie, die auf Dividende sehen mußte, ist dieser Standpunkt nicht immer genügend 
gewahrt worden. Dadurch wurde das Verhältnis zwischen eigenem und fremdem Kapital 
ungünstig und hat namentlich in früheren Jahren, wo die Erfahrung noch fehlte, häufig 
zu einer etwas überhasteten Emissionstätigkeit verleitet. Auch Staat und Kom- 
munen trugen durch eine zuweilen beinahe fieberhafte Tätigkeit dazu bei, den Ka- 
pitalmarkt stark in Anspruch zu nehmen und zu schwächen, und so wurde ein Zustand 
geschaffem, der zwar sicher ein Zeichen von Kraft ist, der aber die Sorge um die 
Liquidität bei den Banken doch nie ganz hat schwinden lassen. Die sog. Bardeckung ist 
ständig gesunken. Vergleicht man in den Bankbilanzen der letzten 20 Jahre das Ver- 
hältnis der Deckung der Depositen und Kontokorrent-Verbindlichkeiten in den deutschen 
Aktienbanken durch den Barvorrat, so findet man eine offensichtliche Verschlech- 
terung; speziell bei den Berliner Großbanken sank das Verhältnis von 70% auf etwa 
20% , wobei noch zu erwägen ist, daß am JZahresabschluß das Bardeckungsverhältnis 
besonders günstig zu sein pflegt; am 51. Oktober 1911 betrug es nur 4½/2% und am 
28. Februar nur 3,72%. Nun ist freilich richtig und wird von jedem erfahrenen Bank- 
praktiker bestätigt, daß das Vorhandensein von Barmitteln für die Liquidität 
keineswegs allein entscheidend ist; man kann mit geringfügigen Barmitteln bei rich- 
tiger interner Bankpolitik allen möglichen Eventualitäten unter Umständen ganz ruhig 
entgegensehen, während man vielleicht trotz großer Kassenvorräte als Bankleiter sorgen- 
volle Stunden hat. Es entscheiden eben andere Gesichtspunkte. Man hat neuerdings auf 
eine Herabsetzung des Zinsfußes für Depositen gedrängt, um dadurch den 
Wettbewerb um die fremden Gelder einzuschränken. Aber es ist ja gar nicht, oder doch 
nicht allein, die Anziehungskraft des hohen Zinsfußes, worauf das Anwachsen der frem- 
den Gelder bei den Großbanken beruht; wir haben gesehen, daß es sich zu einem sehr 
erheblichen Teil bei den Depositen nicht um wirkliche Spargelder handelt, sondern um 
verfügbar zu haltende Mittel von Geschäftsleuten; oft genug auch um Unterlagen für 
Effekten-Spekulationsgeschäfte. Die Frage der Depositen und der Liquidität ist einmal 
nicht zu trennen von dem Problem der Kreditgewährung im allgemeinen; 
alle diese Dinge hängen unmittelbar und eng miteinander zusammen. Gerade weil die 
Banken berufen waren, die Geldzirkulation durchzuführen und die disponiblen Kapi- 
talien namentlich der Industrie in den verschiedensten Formen wieder zuzuführen, gerade 
deshalb waren sie genötigt, sich hierbei in erster Linie auf die ihnen zur Verwendung 
übergebenen fremden Kapitalien zu stützen. Wer also die Entwicklung des Depositen- 
wesens, die Kreditgewährung und Liquidität in unserem Bankwesen angreift, der 
muß sich klarmachen, daß er in gewissem Sinne unsere ganze wirtschaftliche 
Entwicklung, auf die wir doch mit Recht stolz sind, verwirft. Bei der Expansion 
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