Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Bankwesen. 305 
  
erinnert, daß das Bankwesen keine Wissenschaft ist, und daß sie in ihren letzten und 
entscheidenden Teilen nicht erlernt werden kann; die Leitung einer Bank ist eine 
Kunst, und zum Erfolg gehört auch ein glücklicher Instinkt, das richtige Fühlen des heran- 
nahenden Umschlags. Freilich aberwitzige Kreditgewährungen, wie sie z. B. die 
Leipziger Bank vorgenommen hat, die an eine einzige Gesellschaft 95 Millionen 
Mark Kredit gab, obwohl die Bank selbst nur 48 Millionen Mark Aktienkapital besaß, 
sind immer verwerflich; schon der Grundsatz einer vernünftigen Verteilung des 
RKisikos muß jede Bank abhalten und hält jede vernünftig geleitete Bank davon ab, 
zu viel auf eine Karte zu setzen. Im allgemeinen pflegen die deutschen Banken bei der 
Kreditgewährung über einen ziemlich engen Nahmen nicht hinauszugehen. Man darf 
auch nicht vergessen, mit welcher fieberhaften Hast sich das deutsche Wirtschaftsleben 
entwickelt hat, und wie kurz eigentlich der Zeitraum ist, in dem die deutschen Banken 
ihre Erfahrungen haben sammeln können. Aimmt man dazu den schon öfters be- 
rührten Umstand, daß das Geschäft der deutschen Banken ein ziemlich universelles und 
lange nicht so spezialisiert ist, wie das der englischen, dann wird man milder und ge- 
rechter urteilen. Die Kreditgewährung wird auch wohl von dem Gesichtspunkte aus 
angegriffen, daß das den Banken anvertraute Sparkapital überwiegend der Industrie 
und dem Handel, namentlich dem Großhandel und mittleren Handel, in Form des 
Kredits gewährt wird, während Landwirtschaft, Handwerk und Kleingewerbe ver- 
nachlässigt worden sei. Das ist zum Teil richtig, ist aber auch durch den Gang der wirt- 
schaftlichen Entwicklung in Deutschland nur zu sehr begründet. Einmal hat die Land- 
wirtschaft sich den Formen des modernen Kreditverkehrs erst als letzte unter den großen 
Berufszweigen angeschlossen; die Organisation der Bankwelt war schon auf Handel 
und Industrie zugeschnitten, als die Landwirtschaft auf dem Plan erschien. Es fehlte 
aber auch für einen Blankokredit an die Landwirtschaft der Bankwelt die Möglichkeit 
einer dauernden Kontrolle über Person und Geschäftsbetrieb des einzelnen Landwirts. 
Hier konnte erst im Wege des ländlichen Genossenschaftswesens und der Ausbildung 
des Sparkassensystems auch auf dem flachen Lande Abhilfe geschaffen werden. Für 
Realkredite aber schuf sich die Landwirtschaft durch die großen landwirtschaftlichen Insti- 
tute eigene Organe mit eigener, den ländlichen Verhältnissen angepaßter Verwaltung. 
Abnlich verhielt es sich mit dem Handwerk und Kleingewerbe. Auch hier mußten erst 
durch den Scheck, Abrechnungs- und Überweisungsverkehr, namentlich durch Postscheck- 
verkehr, die neuere Kredit- und Verkehrsform geschaffen werden, und nur durch lokale 
Genossenschaften, Sparkassen und kleine bankmäßig eingerichtete Kreditinstitute konnte 
ein vernünftiger Personalkredit gewährt werden. Ze mehr sich Landwirtschaft, Hand- 
werk und Kleingewerbe der modernen Form des Kreditverkehrs bedienen, um so eher 
wird es den Großbanken durch besondere Organisationen ermöglicht werden, auch diesen 
Kredit zu pflegen, wie das in Frankreich ja schon von lange her der Fall ist. Uberhaupt 
ist man zu der Annahme berechtigt, daß die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in der 
deutschen Bankwelt ein klareres Verständnis für die Art des zu gewährenden Kredits 
erweckt haben; man darf aber auch nicht vergessen, daß auf diesem Gebiete die Leiter 
der Großbanken wiederum vor einer schweren Aufgabe stehen. Sie würden durch ein 
48 753
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.