Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
332 Handwerk. VI. Buch. 
  
Innungsverbände), ferner über Lehrlingsverhältnisse, über Meistertitel und die Uber- 
gangsbestimmungen; die einzelnen Artikel traten nach kaiserlicher Anordnung nach 
und nach bis zum 1. Oktober 1901 in Kraft. Was bringt dieses wichtige Gesetz dem 
Handwerk? 
Oie statistische Erhebung vom Jahre 1895 hatte der NRegierung nicht nur bewiesen, 
daß die Novelle von 1881 nicht vermocht habe, das Innungswesen auf fakultativer 
Grundlage neu zu beleben, sondern auch gezeigt, daß bei der örtlichen Zerstreuung 
der Handwerker eine Zwangsorganisation des gesamten Handwerks sehr schwierig sei, 
auch in verschiedenen Bezirken sich nur für einzelne Gewerbe die nötige Anzahl Meister 
zur Bildung einer leistungsfähigen Innung finde. Dazu kam der lebhafte Widerstand 
gegen den Gedanken der allgemeinen Zwangsinnung in den blühenden Gewerbevereinen 
Süddeutschlands. Bei dieser Sachlage schlug die Regierung in dem neuen Handwerker- 
gesetz einen Mittelweg ein, indem sie neben den bisherigen freien Innungen fakultative 
Zwangsinnungen schuf. 
Die Aufgaben der Innungen sind im wesentlichen 
dieselben geblieben, wie sie die Znnungen der früheren 
Zeit hatten. Als gesetzliche Aufgabe der freien Innungen ist ausgesprochen: 
1. die Pflege des Gemeingeistes sowie die Aufrechterhaltung und Stärkung der 
Standesehre unter den IZnnungemitgliedern; 2. die Förderung eines gedeihlichen 
Verhältnisses zwischen Meister und Gesellen, sowie die Fürsorge für das Herbergs- 
wesen und den Arbeitsnachweis; 3. die nähere Regelung des Lehrlingswesens und 
die Fürsorge für die technische, gewerbliche und sittliche Ausbildung der Lehrlinge, 
vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen über die Rechte der Handwerkskammern 
und über die Lehrlingsverhältnisse nach diesem Gesetz; 4. die Entscheidung von 
Streitigkeiten der im Gewerbegerichtsgesetz bezeichneten Art zwischen den Innungs- 
mitgliedern und ihren Lehrlingen. Als freiwillige Obliegenheit steht ihnen ferner 
zu: 1. Veranstaltungen zur Förderung der gewerblichen, technischen und sittlichen Aus- 
bildung der Meister, Gesellen und Lehrlinge zu treffen, insbesondere Schulen zu unter- 
stützen, zu errichten und zu leiten, sowie über die Benutzung und den Besuch der von 
ihnen errichteten Schulen Vorschriften zu erlassen; 2. Gesellen- und Meisterprüfungen 
zu veranstalten und über die Prüfungen Zeugnisse auszustellen; 3. zur Unterstützung 
ihrer Mitglieder und deren Angehörigen, ihrer Gesellen, Lehrlinge und Arbeiter in Fällen 
der Krankheit, des Todes, der Arbeitsunfähigkeit oder sonstiger Bedürftigkeit Kassen zu 
errichten; 4. Schiedsgerichte zu errichten, die berufen sind, Streitigkeiten der in §# 4 
des Gewerbegerichtsgesetzes bezeichneten Art zwischen den Innungemitgliedern und 
ihren Gesellen und Arbeitern an Stelle der sonst zuständigen Behörden zu entscheiden; 
5. zur Förderung des Gewerbebetriebes der Innungemitglieder einen gemeinschaft- 
lichen Geschäftsbetrieb einzurichten. Es sei bemerkt, daß im Gesetz noch als Aufgabe 
der Innungen die Entscheidung von Streitigkeiten der in § 53 a des Krankenversicherungs- 
gesetzes bezeichneten Art und die Errichtung von Schiedsgerichten dafür vorgesehen war; 
die Rechtsverhältnisse der Innungskrankenkassen richten sich indessen jetzt nach der Reichs- 
ODie freien Innungen. 
  
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