Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Handwert. 351 
mäßig ausgebildeten Arbeitern zu den Kosten der gewerblichen Ausbildung des Hand- 
werkerstandes herangezogen, Sicherung der Forderungen der Bauhandwerker herbei- 
geführt und die Grenzen der Zulassung zur freiwilligen Invalidenversicherung für 
selbständige Handwerker erweitert werden sollten; auch wurde gefordert, daß bei Ver- 
gebung öffentlicher Arbeiten und Lieferungen für das Reich die Handwerkergenossen- 
schaften und die Handwerker, die den Meistertitel zu führen berechtigt sind, tunlichst zu 
bevorzugen seien. 
In jüngster Zeit suchen sich die politischen Parteien im Reichstage in hand- 
werkerfreundlichen Anträgen zu überbieten. Zentrum, Wirtschaftliche Vereinigung, 
Reichspartei, Fortschrittliche Volkspartei, Nationalliberale und Deutschkonservative stellten 
1912 eine Reihe von Anträgen, die sich alle mehr oder weniger mit denselben Materien 
befassen; von einer Aufzählung dieser Anträge kann hier abgesehen werden, da sie 
durchweg in das Programm des Handwerks- und Gewerbekammertags übergegangen 
sind, namentlich auch von den preußischen Handwerkskammern vertreten werden. 
Unter dem 5. Oktober 1912 unterbreitete der Deutsche Handwerks- und 
Gewerbekammertag dem Reichstag eine Oenkschrift betr. Abänderung des 
Handwerkergesetzes von 1897, die sämtliche Wünsche, die die Praxis der Handwerks- und 
Gewerbekammern zur Handwerkernovelle gezeitigt hat, im Zusammenhange vorträgt. 
An generellen Fragen werden hier u. a. behandelt: Fabrik und Handwerk, Heranziehung 
der fabrikmäßigen Großbetriebe zu den Kosten der Lehrlingsausbildung im Handwerk, 
Unterstellung der juristischen Personen unter das Handwerkergesetz. Die speziellen Fragen 
berühren die Abänderung einzelner Bestimmungen des Handwerkergesetzes, wie Be- 
teiligung der Handwerkskammern an dem Arufsichtsrecht über die Innungen, Erteilung 
des Rechtes zur Festsetzung von Mindestpreisen an Zwangeinnungen (§100q), obligatorische 
Anhörung der Handwerkskammern durch die Behörden, Einführung des gesetzlichen 
Schutzes des Gesellentitels, gesetzliche Festsetzung des Begriffes „Lehrling“ und eine 
Keihe von anderen Lehrlingsfragen u. a. 
Es wird schließlich die Erwartung ausgesprochen, daß die gesetzgebenden Körper- 
schaften das mehrfach gegebene Versprechen einer Neukodifikation des Handwerker-- 
rechtes einlösen. Durch diese Denkschrift geht im Gegensatz zu der Auffassung des Ver- 
bandes Deutscher Gewerbevereine ein einheitlicher Zug nach Betonung des Zwanges, 
so daß nicht hinter allen diesen Forderungen das gesamte deutsche Handwerk steht. 
Am 22. Oktober 1912 tagte in Berlin eine Konferenz preußischer Handwerks- 
kammern, die in 7 Hauptgruppen die weiteren Ziele und Forderungen des organi- 
sierten preußischen Handwerks aufstellte und einstimmig angenommen hat. Diese sind: 
Würdigung des Handwerks in seiner wirtschaftlichen Eigenart durch Anerkennung hand- 
werksmäßiger Großbetriebe, Errichtung von Handwerkeregistern bei den Amtsgerichten, 
Aufhebung des §& 100 q der R#SO., Schutz der Arbeitswilligen und der Handwerker vor 
Boykottierung, Pflege des Genossenschaftswesens durch Lehrkurse, durch Gewährung 
von Anlagekrediten für Produktiv- und Werkgenossenschaften, durch Begründung von 
Hypothekeninstituten in den Städten analog den Landesbanken, gesetzliche Regelung 
des Fortbildungsschulwesens, Errichtung von Gewerbeförderungsanstalten für die ein- 
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