Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
356 Zandwerk. VI. Buch. 
  
Das Handwerk hält daran fest, daß der Staat die 
Pflicht habe, wenigstens für einen Teil seines 
Bedarfs das Handwerk zu berücksichtigen. Tatsäch- 
lich ist er diesem Verlangen auch nachgekommen. So hat die Heeresverwaltung 1908 an 
ihren Lieferungen 70 Znnungen und 38 Genossenschaften mit Lieferungswerten von 
1⅜ Nillionen beteiligt, dazu kommen Vergebungen der Militärverwaltung an Hand- 
weber für 680 000 M, für Leder an die deutsche Gerbervereinigung mit 4½ Millionen 
Mark; auch die Reichsmarineverwaltung deckt besonders ihren Lederbedarf beim Hand- 
werk. Ferner ist die Reichspost- und Telegraphenverwaltung auf dieser Bahn mit stei- 
gendem Erfolge vorangegangen, und im Bereiche der Eisenbahnverwaltung werden 
jährlich Arbeiten im Werte von über 100 000 M an Handwerkervereine vergeben. Das 
ist immerhin schon ein guter Anfang. 
Deckung des Staatsbedarfs 
beim Handwerk. 
  
  
Das Handwerk hat Interesse daran, die Begriffe „Fabrik“ 
und „Handwerk“ gegeneinander abzugrenzen. Nach der 
heutigen allgemeinen Ansicht ist eine gesetzliche Bestimmung dieser Begriffe unmöglich, so 
daß die Entscheidung von Fall zu Fall erfolgen muß. Für das Handwerk handelt es sich bei 
dieser Frage darum, 1. die größeren kapitalkräftigen Handwerksbetriebe zu der Zwangs-- 
innung und zu den Kosten der Handwerkskammer heranzuziehen; 2. nach dem Handels- 
gesetzbuch zu entscheiden, ob der Inhaber des Betriebes zur Handelskammer oder zur 
Handwerkskammer beitragspflichtig ist; 3. festzustellen, ob die in einem Betriebe ge- 
haltenen Lehrlinge den Bestimmungen für Handwerker hinsichtlich der Lehrlingsver- 
hältnisse unterliegen oder nicht. Dabei besteht ein Ubelstand darin, daß in Streitfällen 
unter 1. die Verwaltungsbehörden, unter 2. die Verwaltungsgerichte, unter 3. die 
ordentlichen Gerichte entscheiden; so ist eine einheitliche Rechtsprechung sehr erschwert. 
1912 hat man nun in Konferenzen im Reichsamt des Innern, an denen Bertreter von 
Handel, Industrie und Handwerk teilnahmen, eine praktische Auseinandersetzung ver- 
sucht, in der übereinstimmend anerkannt wurde, daß eine Vereinheitlichung der ent- 
scheidenden Instanz notwendig, auch die Eiistenzmöglichkeit handwerklicher Großbetriebe 
zuzugeben sei. — Oie fabrikmäßigen Großbetriebe benutzen Kräfte, die das Handwerk 
ausgebildet hat; deshalb sollen sie nach dem Wunsche der Handwerker als der stärkere 
Teil durch gesetzliche Regelung zu den Kosten der Anstalten, die der Ausbildung 
der Lehrlinge im Handwerk dienen, herangezogen werden. Eine Engquete des 
preußischen Ministers für Handel und Gewerbe von 1907 aus mehreren Regierungs- 
bezirken ergab, daß bei 1475 befragten Betrieben mit 311 364 Arbeitern nur 36,7% 
gelernte Arbeiter waren, von denen 40,84% aus Handwerkskreisen stammten; dagegen 
waren 59,16 % in Fabriken ausgebildet. Dabei stellte sich ferner heraus, daß die Zahl 
der in den Fabriken ausgebildeten gelernten Arbeiter ständig wächst, während die Zahl 
der im Handwerk ausgebildeten Arbeiter fortschreitend sinkt. So bezeichnete der Minister 
die Heranziehung der Industrie zu den Kosten der Lehrlingsausbildung als eine kleinliche 
Kriegsmaßregel, die dem Handwerk keinen Autzen bringen würde, wohl aber den Frieden 
zwischen Industrie und Handwerk beeinträchtigen könne. Ferner wies er darauf hin, daß 
Fabrik und Handwerk. 
  
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