VI. Buch. Die Arbeiter-Sozialpolitik. 367
kratie. Daß damit die versöhnliche Wirkung dieser Gesetze sich stetig erhöhen mußte, liegt
auf der Hand.
Die Beratung der Novellen brachte immer
wieder die Zersplitterung der deutschen Arbeiter-
versicherung unangenehm zum Bewußtsein. Bereinheitlichung und Vereinigung
drängte sich als Forderung auf. Dazu kam, daß noch immer die dringendste und natur-
notwendige Ergänzung der Invalidenversicherung: die Witwen- und Waisenver-
sicherung, fehlte. Sie war schon oft in Resolutionen des Reichstags gefordert worden.
Auch in der Thronrede vom 28. November 1895 war die Fortbildung der sozialen Gesetze
als „eine Hauptpflicht des Reiches“ von neuem anerkannt und „die Vereinheitlichung
bes gesamten Arbeiterversicherungsrechts mit der Ausgestaltung der Witwen- und Waisen---
fürsorge“ als Ziel der Gesetzgebung der nächsten Zahre in Erinnerung gebracht worden.
Als Hauptschwierigkeit erschien die neue finanzielle Belastung, welche die itwen- und
Waisenversicherung bringen würden. Um hier die Wege zu ebnen, wurde bei Beratung
des Schutzzolltarifs der Antrag (Trimborn und Genossen) gestellt: die Mehrerträge
infolge der Erhöhung der Lebenemittelzölle zu einem Fonds für die Durchführung der
Witwen- und Waisenversicherung anzusammeln. Dieser Antrag fand Annahme. Wenn
auch die Erträge weit hinter den Erwartungen zurückblieben, so drängte sich doch die
Pflicht auf, die geweckten Hoffnungen auch zu erfüllen. So kam denn endlich 1910
die „Reichsversicherungsordnung“" zugleich mit dem Ziele der Witwen- und Waisen-
versicherung zur Vorlage. Es war der umfassendste Gesetzesentwurf, welcher den Reichstag
seit dem Bürgerlichen Gesetzbuche beschäftigt hat. Schon Graf Posadowsky und sein
Nachfolger im Staatssekretariat, jetzt Reichskanzler Herr von Bethmann-Hollweg, hatten,
wirksam unterstützt durch einen getreuen Stab von tüchtigen, für ihre Aufgabe begeisterten
Mitarbeitern: Caspar, Spielhagen, Würmeling, Zaup, Beckmann, Wiedfeld, Laß,
Siefart, die umfassenden Vorarbeiten wesentlich fertiggestellt. Die parlamentarische Ver-
tretung fiel dem neuen Staatssekretär Dr. Delbrück zu, dessen außerordentliche rhetorische
und parlamentarische Begabung denn auch die Vorlage durch alle Wogen und Brandungen
des Reichstags glücklich hindurchführte, so daß ihr die bürgerlichen Parteien fast ge-
schlossen zustimmten. ANur die Sozialdemokraten lehnten sie wegen der Aeugestaltung
der Verwaltung in den Krankenkassen, durch welche ihre Übermacht gebrochen werden
sollte, ab.
Mit dem 1. August 1911 wurde die „Reichsversicherungsordnung“ Gesetz. Sie hat
zwar keine „Zusammenlegung“ der Versicherungen, wie man in Verkennung der großen
Schwierigkeiten oft verlangt hatte, wohl aber eine einheitliche Zusammenfassung der
verschiedenen Gesetze in ein großes Rahmengesetz mit verschiedenen Unterabteilungen
gebracht. Dabei sind die Begriffe und der Geltungebereich mehr einheitlich und schärfer
umgrenzt. Die Behörden-Organisation: Bersicherungsamt, Oberversicherungsamt,
Reichsversicherungsamt ist einheitlicher ausgebaut und damit auch die Verwaltung und
Rechtsprechung spstematischer gestaltet. Aber auch inhaltlich haben die verschiedenen
Zweige der Versicherung wesentliche Verbesserungen erfahren. Bedeutungesvoll ist vor
Reichsversicherungs-Ordnung.
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