Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Die Arbeiter-Sozialpolitik. 369 
  
Arbeiterversicherung und Sozialistengesetz. — Der neue Kurs. 
Oie deutsche Arbeiterversicherung im Geiste Bis- 
marcks hatte in erster Linie den Zweck, die 
arbeitenden Klassen für die bestehende Staatsordnung wieder zu gewinnen. Es sollten 
odie bedenklichen Erscheinungen, welche den Erlaß des Gesetzes gegen die gemein- 
gefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ notwendig gemacht hatten, „auch 
durch positive, auf die Verbesserung der Lage der Arbeiter abzielende Maßnahmen“ 
bekämpft werden (Begründung zum ersten Unfallversicherungsgesetz). Anstatt der mate- 
riellen Ziele: Hebung und Sicherung der Lage der arbeitenden Klassen wurde der poli- 
tische Zweck: die positive Bekämpfung der Sozialdemokratie in den Vordergrund gerückt. 
So erschien das ganze Versicherungswerk unter den Gesichtspunkt des Sozialistengesetzes 
gestellt — als „Zuckerbrot“ zur „Peitsche“ —, und es mußte so seine versöhnliche Wirkung 
vor Allem bei den Sozialdemokraten und ihren Gesinnungsverwandten vollständig ver- 
fehlen. Der Reichskanzler hat selbst später einmal im Reichstage am 26. Nov. 1884 
bemerkt: 
„Die Sozialdemokratie ist, so wie sie ist, doch immer ein erhebliches Zeichen, ein Menetekel für die be- 
sitzenden Klassen dafür, daß nicht alles so ist, wie es sein sollte, daß die Hand zum Bessern angelegt werden kann 
und insofern ist ja die Opposition ganz außerordentlich nützlich. Wenn es keine Sozialdemokraten gäbe und 
wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihnen fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir Üüberhaupt 
in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existieren und insofern ist die Furcht vor der Sozial- 
demokratie in bezug auf denjenigen, der sonst kein Herz für seine Mitbürger hat, ein ganz nützliches 
Element.“ 
Wenn dem Reichskanzler auch gewiß nicht „das gute Herz“ für seine Mitbürger 
abgesprochen werden soll, so war seine ganze Sozialpolitik doch allzusehr auf diesen 
Ton der Bekämpfung der Sozialdemokratie gestimmt. 
In zweiter Linie anerkannte der Reichskanzler es allerdings auch als eine „Pflicht 
der Humanität und des Christentums, von welchen die staatlichen Einrichtungen 
durchdrungen sein sollen“, daß der Staat „sich in höherem Maße als bisher 
der hilfsbedürftigen Mitglieder annehme“ (Begründung zum ersten Unfall- 
versicherungs-Entwurf), aber anstatt die beabsichtigten MNaßnahmen unter die allge- 
meinen Gesichtspunkte der Staats- und Wirtschaftspolitik zu stellen, begründete er sie 
als eine „Weiterentwickelung der Idee, welche der staatlichen Armenpflege zu- 
grunde liegt“. (I. c.) Er betonte es als eine Aufgabe staatserhaltender Politik, „in den 
besitzlosen Klassen der Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten und am wenigsten 
unterrichteten sind, die Anschauung zu pflegen, daß der Staat nicht bloß eine notwendige, 
sondern auch eine wohltätige Einrichtung sei“. „Durch erkennbare direkte Vorteile, 
welche ihnen durch gesetzgeberische Maßregeln zuteil werden,“ sollten sie dahin geführt 
werden, „den Staat nicht als eine lediglich zum Schutze der besser situierten Klassen der 
Gesellschaft erfundene, sondern als eine auch ihren Bedürfnissen und Interessen dienende 
Institution aufzufassen.“ 
So stellte sich die ganze Arbeiterversicherung im Geiste Bismarcks nur als eine wei- 
tere gesetzliche Ausgestaltung der Armenpflege dar. Es sollte ein großzügig gedachtes 
Politisches Ziel Bismarcke. 
  
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