Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
396 Die Arbeiter-Sozialpolitik. « VI. Buch. 
  
der Lohn an die Eltern oder Vormünder oder nur mit Zustimmung dieser oder nach deren Bescheinigung 
über den Empfang der letzten Lohnzahlung unmittelbar an die Minderjährigen gezahlt wird, oder daß den 
Eltern oder Vormündern regelmäßig Mitteilung über die an die Minderjährigen bezahlten Lohnbeträge 
gemacht wird. Leider ist von diesen Vollmachten bisher wenig Gebrauch gemacht worden. 
Durchdas Gewerbegerichtsgesetzvon 1891 
ist den Arbeitern eine gerechte, billige 
und schnelle Rechtsprechung bei allen Streitigkeiten auf Grund des Arbeitsvertrages: 
Antritt und Kündigung des Arbeitsverhältnisses, Lohn, Arbeitsbuch, Berechnung der 
Versicherungsbeiträge usw. gesichert. In gleichem Maße wie die Arbeitgeber nehmen 
sie durch in geheimer und direkter Wahl gewählte Vertreter als Beisitzer unter einem 
neutralen richterlichen Vorsitzenden an der Rechtsprechung teil, so daß volle Würdigung 
der berechtigten Ansprüche der Arbeiter gesichert ist. Als besonderen Nuhm können die 
Gewerbegerichte für sich in Anspruch nehmen, daß etwa die Hälfte aller Streitigkeiten 
durch freiwilligen Vergleich erledigt werden. 
ODie Gewerbegerichte können auch als Einigungsämter auf Anrufung der Parteien 
oder auch aus eigner Entschließung in Streitigkeiten über den noch abzuschließenden Arbeits- 
vertrag eingreifen, vermitteln und zum Frieden wirken. Endlichkönnensie als begutachten- 
des Organ von Gemeinde, Staat und Korporationen usw. in Anspruch genommen werden. 
Die Gewerbegerichte haben zum allgemeinen Verständnis und zu einem zweck- 
mäßigen Ausbau des Arbeitsvertrages-Rechts wesentlich beigetragen. Sie haben das 
Rechtsgefühl gestärkt und erfreuen sich insbesondere auch des vollen Vertrauens der 
A1rprbeiter. Auch als Einigungsämter haben sie sich dort bewährt, wo tüchtige Vorsitzende 
sich dieser Aufgabe mit Berständnis, Klugheit und Nachdruck annahmen. 
Da die Gewerbegerichte meistens für den Bereich einer Gemeinde errichtet sind, so können sie im all- 
gemeinen nur in lokalen Streitigkeiten als Einigungsamt eingreifen. Mit der wachsenden Bedeutung der 
großen zentralen gewerkschaftlichen Organisationen gewinnen naturgemäß auch die Lohnkämpfe weitere, 
den Bereich der Gewerbegerichte überschreitende Ausdehnung. So drängt das Bedürfnis auf Errichtung 
eines Reichs - Einigungsamtes, wie es in Anträgen des Reichstages schon mehrfach gefordert ist. 
Die gute Wirkung der Gewerbegerichte weckte bei dem Handelsgewerbe den Wunsch 
nach einer gleichen Einrichtung. So sind durch Gesetz vom 16. Juli 1904 Kaufmanns- 
gerichte eingeführt worden. 
Im Jahre 1912 bestanden in Deutschland 948 Gewerbe- und Innungeschiedsgerichte. Von den 120 380 
anhängigen Streitigkeiten wurden 48 000 durch Vergleich erledigt. In 309 Fällen wurden sie als Einigungsamt 
angerufen. Gutachten wurden 18 abgegeben. Bei den 291 Kaufmannsgerichten wurden 25 493 Streitig- 
keiten ausgetragen, von denen 10 340 durch Vergleich erledigt wurden, 1025 durch Endurteil (Reichsarbeits- 
blatt 1913, Nr. 8). 
Gewerbegerichte.—Einigungsämter. 
  
Gewerbeaufsicht. Für die Aufsicht und Durchführung der Arbeiterschutzgesetz- 
gebung war schon durch die Gewerbeordnungs-Novelle von 
1878 die Anstellung besonderer Beamter vorgesehen (5 159 b). Fürst Bismarck war 
ein scharfer Gegner dieser besonderen Fabrikinspektion, und so war es begreiflich, daß 
die Anträge auf Vermehrung dieser Beamten im Reichs- und Landtage immer wieder 
schroffe Ablehnung erfuhren. Erst nach den Februar-Erlassen wurde eine sostema- 
tische Neuordnung und Verstärkung der Gewerbeaufsicht in die Wege geleitet. 
  
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