Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
406 Oie Arbeiter-Sozialpolitik. VI. Buch. 
  
Vortrag auf dem Internationalen Hygienisch-demographischen Kongreß in Washington 
1912 hervor: 
„Das Volk, die Volkskraft ist das kostbarste Gut der Nation. Ee ist nicht bloße Masse, 
nicht „quantité négligeable“, sondern organisches Nationalkapital, das in weitem Umfange 
den Mutterboden der Kultur und der wirtschaftlichen Produktivität darstellt. Dies gilt 
sowohl für die alten Kulturstaaten, wie für die Staaten der Neuen Welt mit starker 
Zuwanderung. Dies gilt noch mehr als früher in der Gegenwart, wo im Zeichen der 
fortschreitenden Industrialisierung und Verstadtlichung der Bevölkerung der Mensch 
selber immer mehr zur Produktionsquelle, zur Mehrwertsquelle wird, wo er infolge- 
dessen immer höhere Einschätzung erfordert. Der Reichtum des einzelnen Landes 
bemißt sich daher in der Gegenwart ganz wesentlich nach der quantitativen 
Größe und auch nach der qualitativen Reife der Bevölkerung. Verwertung 
und Entwickelung unserer Volkskraft darf demgemäß nicht Raubbau sein, sie muß orga- 
nisches Kapitalisieren sein. Die neuen Entwickelungswerte müssen als Zinsen und Zinses- 
zinsen aus dem Volkskapital ohne Beeinträchtigung des innern Wertes des Volkskapi- 
tals herausgewirtschaftet werden. So erscheint es denn selbstverständlich, daß alle moderne 
weitblickende Staatspolitik nicht so sehr auf mehr Geldreserven als auf mehr Kraftreser- 
ven gerichtet ist. Sie erstrebt größte Reserven von körperlicher und geistiger Kraft, von 
phpsischer und sittlicher Gesundheit der Nation.“ 
Diese hohe Einschätzung der physischen Volkskraft ist um so mehr gegeben, als mit 
der steigenden industriellen Entwickelung die Bolksvermehrung in Deutschland nicht 
bloß nicht gleichen Schritt hält, sondern in bedenklicher Weise abnimmt. 
Trotz des steigenden Wohlstandes ist die Zahl der Eheschließungen von 8,2 auf je 
1000 Einwohner in den Zahren 1891 bis 1900 auf 7,9 1912 zurückgegangen. Noch be- 
denklicher aber ist der Rückgang der Geburten: von 38,2 im Ourchschnitt der Jahre 
1881 bis 1890 auf 29,1 im Jahre 1912. In Preußen sank die Geburtsziffer von 36,7 im 
Jahre 1892 auf 29,7 im Jahre 1912. Oas ist eine dringende Gefahr für unsere nationale 
Wehrkraft wie für unsere wirtschaftliche Weltstellung. So haben wir doppelt Grund, 
unsere Volkskräfte zu schonen und zu stärken und auf eine möglichst lange Er- 
haltung des Lebens hinzuwirken. ODie so verwendeten Kosten sind, selbst rein geschäft- 
lich betrachtet, nicht minder gewinnbringend, wie etwa die Auslagen für den Schutz und 
eine schonende Behandlung und rechtzeitige und sorgfältige Reparatur kostbarer Maschinen. 
So stehen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik in innigem 
gegenseitigen Verhältnisse. Die Opfer, welche der natio- 
nalen Produktion im Interesse der arbeitenden Klasse 
aufgelegt sind, haben sich als fruchtbare, reichlich sich verzinsende Anlagen erwiesen. Aur 
eine wirtschaftlich und physisch vollkräftige Arbeiterschaft kann auch den weiteren Auf- 
stieg unserer Industrie sichern. Das ist unser Stolz, das aber auch unsere Bürgschaft 
für die Zukunft, daß die erfreuliche Entwickelung unserer Industrie begleitet war von einer 
nicht minder erfreulichen wirtschaftlichen, phpsischen und geistigen Hebung des Arbeiter- 
standes, wie umgekehrt unsere Sozialpolitik sich stets der Grenzen bewußt geblieben ist, 
Wirtschaftspolitik und 
Sozialpolitik. 
  
  
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