Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Die Arbeiter-Sozialpolitik. 43 
und sich der harten Grenzen, die dem stolzen Flug der Weltverbesserer gesetzt sind, bewußt 
zu werden. Statt phantastischer Zukunftspläne pflegen sie nüchterne Gegenwartsarbeit 
in kraftvollen Gewerkschaften und Genossenschaften. Za selbst eine Volksversicherung 
wollen sie in großem Stile einrichten, um sich für Leben und Sterben im Gegenwarts- 
staat vorzusehen. So suchen sie sich in dem nationalen Vaterhause immer fester und 
wohnlicher einzurichten. Wer aber so eifrig mitbaut und bessert, denkt jedenfalls noch 
nicht an — Brandstiftung. 
Die Sozialdemokratie ist immer mehr zu einer radikalen politischen Partei 
geworden, der alle politisch Unzufriedenen zuströmen. Die sozialen Forderungen und 
Klagen treten mehr und mehr gegenüber den politischen und „Kultur"-Fragen — d. h. 
den Bestrebungen einer antichristlichen Kultur — zurück. Alle ihre Reden und Flug- 
blätter, ihre Anträge in den Parlamenten, die sie zur Verhandlung bringt, haben fast 
ausschließlich politischen Charakter. Allgemeines Wahlrecht in Preußen, Beseitigung der 
Zölle und indirekten Steuern, Bekämpfung von Militär und Marine, Bekämpfung der 
christlichen Schule usw. sind die Fragen, mit denen sie die Massen aufzupeitschen sucht. 
Von den sozialen Fragen sind es wesentlich nur noch die Wohnungsfrage, das Elend 
der Hausindustrie und bei absteigender Konjunktur die Frage der Arbeitslosigkeit, 
die berechtigten Stoff für die Aufhetzung bieten. Im übrigen handelt es sich um Auf- 
gaben, die gewiß auch berechtigt und dringend sind, die sich aber meistens im Nahmen 
und auf Grund der bereits geschaffenen Gesetze im Wege der Verordnung und privater 
Fürsorge erfüllen lassen. 
Man hat mit Recht auf die überraschende Tatsache hingewiesen, daß, während bei der letzten Reichs- 
tagswahl (1912) 4¼ Millionen, also mehr als ein Orittel aller abgegebenen Stimmen auf die sozialdemo- 
kratische Partei gefallen sind, die Zahl der eingeschriebenen männlichen Mitglieder der Partei nur 841 735 
beträgt. Dieser gewaltige Zahlenunterschied beweist gewiß, daß die Masse der sozialistischen Wähler nicht 
als zielbewußte Überzeugte Sozialdemokraten anzusprechen sind. Die Zahl der eingeschriebenen Sozial- 
demokraten hätte an und für sich noch nichts Erschreckendes, wenn nicht die Masse der Mitläufer 
aus den bürgerlichen Kreisen ihren Einfluß verstärkte. Dessen ist sich die Sozialdemokratie auch sehr 
wohl bewußt. Deehalb die kluge Taktik der Mäßigung und Friedfertigkeit, wie sie z. B. der Zenger 
Parteitag zur Schau trug, während der innere Charakter der Partei, ihr Haß gegen Religion und Monarchie, 
die skrupellose Verhetzung der arbeitenden Klassen gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, die rück- 
sichtslose Verfolgung ihrer letzten Ziele gegebenenfalls auch durch Massenstreik und Gewalttat unverändert 
geblieben sind und die Verschleierung dieser Ziele ihre Gefahr und Werbekraft nur erhöht. Zn der Stunde 
der Entscheidung sind es immer die wenigen Zielbewußten, welche die Masse mit sich fortreißen. 
Christlich-nationale Als wichtigsten positiven Erfolg der Sozialreform dürfen 
wir die Bildung und Erstarkung einer christlich- 
nationalen Arbeiterbewegung betrachten, die sich in 
freier Selbstbestimmung, in klarer Erfassung der berechtigten Ziele einer modernen 
Arbeiterbewegung mit Stolz und Begeisterung zu den Grundsätzen des Christentums 
und der monarchischen Staatsanschauung bekennt und mit freudigem Vertrauen auf 
dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung, im Rahmen und im Verein mit den 
bürgerlichen Parteien für die berechtigten Forderungen ihres Standes kämpft und arbeitet. 
Sie bildet die kraftvollste Gegenwehr gegen die Sozialdemokratie und den Kristallisations- 
punkt für alle die Elemente des Arbeiterstandes, die auf friedlichem Wege, im Rahmen 
  
Arbeiterbewegung. 
  
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