418 Das Bevölkerungsproblem. VI. Buch.
dagegen der relativen Sterblichkeit von nur 21,8 auf 18,2, bei den Geburten also binnen
einer Dekade ein Minus von 7,4, bei den Sterbefällen ein solches von nur 3,8 auf 1000.
Der Geburtenrückgang gewinnt also, nachdem es früher umgekehrt war, jetzt über den
Rückgang der Sterblichkeit die Oberhand, d. h. die Geburten erfahren eine viel weiter-
gehende Einschränkung, als durch den Rückgang der Sterblichkeit geboten wäre. Das
Sinken der Sterblichkeit kann also schon darnach den Geburtenrückgang nur zum Teile
erklären. Dazu kommt aber, daß von der verringerten Sterblichkeit der Erwachsenen
ceteris paribus die gegenteilige Wirkung ausgehen muß, und daß auch die verringerte
Sterblichkeit der Kinder nicht unter allen Umständen der Geburtenziffer gefährlich
werden muß.
Eine andere, von Adolf Wagner und Prinzing versuchte Erklärung geht dahin,
daß wir augenblicklich bin sichtlich der Geburten uns in einem Wellentale be-
finden, das gemäß des Rhythmus geschichtlichen Geschehens über kurz oder lang von einem
Wellenberg abgelöst werden dürfte. Für die Prüfung dieser Annahme bedarf es längerer
statistischer Reiheen. Wir haben regelmäßige statistische Aufnahmen für ganze Länder
seit etwa 100 Zahren. In Preußen reichen sie bis 1816 zurück. Aber niemals in dem A#luf
und Ab der Geburten in dieser Zeit haben wir einen Geburtenrückgang von gleicher
Beständigkeit erlebt wie den der letzten zwei JLahrzehnte. Wenn wir, um Ausnahmejahre
auszugleichen, immer zwei Jahr zusammenfassen, haben wir in Preußen (und übrigens
auch in Deutschland) seit 1890 einen ununterbrochenen Rückgang der Geburtenfrequenz.
Niemals vorher hat man in der statistisch kontrollierten Zeit in Preußen Ahnliches er-
fahren. Wohl ist, wenn man die zwei Jahre 1819 und 1848 einander gegenüberstellt,
die Geburtenziffer von 45,2 auf 35,8 pro tausend der Bevölkerung zurückgegangen.
Von einer Stetigkeit des Rückgangsin dieser Zeit kann aber keine NRede sein. Vielmehr
oszilliert, wenn wir von den Jahren der volkswirtschaftlichen Erholung Preußens in den
Jahren 1816/26 absehen, wo die Geburtenziffer infolgedessen ausnahmsweise hoch war
(zwischen 45,2 und 42,5), die Geburtenziffer immer um 40 auf 1000 der Bevölkerung
und fällt nur ein oder zwei Fahre lang unter dieses Maß oder erhebt sich darüber. Diese
Konstanz kommt der Geburtenziffer die ganze Zeit bis 1880 zu. Erst im vorletzten
Zahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, von 1880 bis 1890, gerät sie erstmalig ins
Schwanken. 1890 ist dann die abwärtsgehende Bewegung besiegelt und kennt keine
Unterbrechung mehr.
Auf die statistische Erfahrung früherer — statistisch kontrollierbarer — Zeiten kann
man sich also für die Erklärung der Erfahrung unserer Frage nicht berufen.
Wieder eine andere Erklärung benutzt die „schlechten Zeiten“, die als solche
der Masse des Volkes nicht gestatten, so viel Kinder wie früher in die Welt zu
setzen. Diese Erklärung wird von oppositionellen Politikern und von Theoretikern,
die politisch jenen nahestehen, begünstigt. So hat ihr beispielsweise jüngst der
freisinnige Abgeordnete Georg Gothein, weiter zurück der Sozialtheoretiker Tönnies
Worte geliehen.
Gothein macht für den RKückgang den „Bülow-Tarif“ und die Verteuerung ver-
antwortlich, welche die Lebenshaltung des deutschen Volkes seit seiner Annahme erfahren
866