VI. Buch. Das Bevölkerungsproblem. 410
habe. „Früher“, so meint er, „fanden Teuerungsjahre ihren Ausdruck in vermehrter Sterb-
lichkeit und zahlreicheren Eigentumsdelikten, heute im Rückgang der Geburtenziffer.“
Dem ist entgegengehalten worden, daß der Rückgang der Geburten international ist,
d. h. für alle Kulturvölker der europäischen Mitte und des europäischen Westens
und auch für die Angelsachsen in Amerika und Australien gilt, der Hinweis auf den
„Bülow-Tarif“ als den Hauptschuldigen also kaum das Nichtige treffen dürfte. Richtig
ist an dieser Erklärung jedoch, daß eine Verteuerung des Lebens ganz unabhängig von
der Gestaltung der Einkommen aus psychologischen Gründen geeignet ist, manche der
auf eine Herabsetzung der Geburtenziffer gehenden Tendenzen zu unter-
stützen. Ebenso ist sicher, daß eine solche Verteuerung des Lebens mit der Zeit des
stärksten Geburtenrückgangs zusammengefallen ist. Die preußischen Verhältnisse veran-
schaulicht die folgende Tabelle:
Geburten Todesfälle Weizenmehl Kartoffeln Rindfleisch Schweinefleisch
auf 1000 Lebende Preies in Pfg. pro kg
19000 1. 37,3 22,3 30 5 127 134
19101 1. 30, 17,5 37 9 161 156
Oie Zahl der Todesfälle ist also in dieser Zeit der Verteuerung der Lebensführung nicht
gestiegen, vielmehr zurückgegangen, eigentliches Elend hat die Teuerung nicht geschaffen,
aber der Geburtenrückgang fällt mindestens zeitlich mit ihr zusammen, und auch eine ge-
wisse ursächliche Verknüpfung ist zweifellos da.
Der bereits genannte Kieler Volkswirt Tönnies hat neben der Teuerung die
Heiratsziffer zur Erklärung des Sinkens der Geburtenrate herangezogen. Indes ist
in der Gestaltung der Heiratsziffer nichts Auffälliges zu verzeichnen. Die Jahre 1901 bis
1910 hatten mit genau 8 Eheschließungen auf 1000 Menschen eine Heiratsfrequenz,
die größer als jene der Dekade 1881/90 und selbst die der Dekade 1851/60 war, die beide
jährlich 7,8 aufwiesen. Die Heiratsziffer ist letzthin allerdings etwas zurückgegangen.
Aber bei den Eheschließungen erfolgt noch heute ganz regelmäßig ein Auf und Ab in
längeren Perioden, wie es irrigerweise von einigen Nationalökonomen auch für die Ge-
burten angenommen wird. Seit Gründung des Reichs schwankte die Heiratsziffer,
wenn wir von den ersten Jahren, die Ausnahmecharakter tragen (weil es die durch den
Krieg gerissenen Lücken auszufüllen galt), absehen wollen, regelmäßig zwischen 8,5
und 7,5. Dieses Minimum wird auch in unseren Tagen nicht unterboten. Die Ehe-
schließungsfrequenz der Jahre 1904/08 weist noch durchweg Durchschnittsziffern oder
überdurchschnittliche Ziffern aus, und insgesamt war die Heiratsfrequenz unfrer Jahre
als eine gute zu bezeichnen. Der Erklärung aus der Abnahme der Eheziffer steht auch
entgegen, daß die Eheschließungsziffer für die 20—25 Jahre alten Frauen in letzter Zeit
sogar gewachsen ist. Dieses Alter ist aber besonders fruchtbar, so daß die Gestaltung
der Heiratsverhältnisse eher einer Steigerung, als einer Verminderung der Geburten
günstig gewesen wäre.
Große Bedeutung mißt Tönnies weiter der Zunahme der Mischehen bei. Er
denkt dabei nicht bloß an die konfessionellen Mischehen, sondern auch an die Ehen ver-
schiedener Stammesangehöriger, die in den Großstädten zusammenströmen. Mit dieser
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