VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Theologie. 11
verdummungsanstalt parteipolitisch verdächtigt und perhorresziert. Die UAnkirchlichkeit
der Sozialdemokratie ist in erster Linie ein politischer Boykott und steht dort unter der
Parteikontrolle, wo die offizielle Sozialdemokratie ihre volle Macht entfalten kann, tritt
dagegen aus taktischen Gründen besonders in ländlichen Gegenden zurück. Daneben
wirkt freilich die von Anfang an mit dem Sozialismus verbundene materialistische
Weltanschauung, welche von der roten Presse grundsätzlich vertreten wird, nament-
lich in den Kreisen der aufgeklärten Genossen nicht unwesentlich mit. Die Kombination
„Monismus und Sozialismus“ ist charakteristisch für unsere Zeit. Dort wie hier die
grundsätzlich geschichtslose Betrachtung, die internationale Gesinnung, das antipatrio-
tische Erziehungsideal und die entschlossene Kirchenfeindschaft.
Brechen wir hier ab; ziehen wir das Fazit.
Folgendes hat sich ergeben: die Gründe des allgemeinen, oben aus sehr verschiedenen
Typen zusammengesetzten Phänomens der modernen Unklirchlichkeit sind vor allem in
geistigen Strömungen zu suchen, welche außerhalb der Kirche, in der neuzeit-
lichen Entwickelung der Kultur ihren Ursprung haben. Die hauptsächlichsten sind:
1. der moderne religiöse Subjektivismus und Individualismus; 2. die
allgemeine durch die Aufklärung erzeugte Weltanschauungskrisis mit
ihrem materialistischen Höhepunkt im Monismus; 3. die Fluktuation der
Bevölkerung und ihre sozialethischen Folgen; 4. die Verweltlichung der
Kultur und der praktische Materialismus des 19. Lahrhunderts; 5. die anti-
kirchliche Agitation und Erziehungsprazxis der sozialistischen Partei.
Die Unkirchlichkeit unserer Zeit ist ein Produkt aus diesen Faktoren. Gründe, die
sonst noch mitgewirkt haben, sind untergeordneter Natur.
Es ist eine der wichtigsten Tatsachen, daß die evangelische Kirche trotz aller An-
strengungen nicht die Kraft besaß, den Prozeß der zunehmenden UAntkirchlichkeit zum
Stillstand zu bringen. Fragen wir nach den Gründen, so führt uns diese Frage auf die
Betrachtung der inneren Seite unserer kirchlichen Krisis.
Entwicklung des Kampfes Dagganze Jahrhundertstand unterdem Beichen kirch-
gegen die Union. licher Einigungsbestrebungen. Sie haben nicht
zum Ziele geführt. Die Durchführung der preußischen
Kirchenunion gab anfangs der dreißiger Zahre Anlaß zu den Anfängen freikirchlich-
lutherischer Kirchengebilde, welche sich im Laufe des Zahrhunderts vermehrt und entwickelt
haben. Im Mittelpunkt ihres kirchlichen Bewußtseins steht der nie verstummende Protest
gegen die Union. Er hat sogar die jahrzehntelang in diesen Kreisen unbestrittene Herr-
schaft der Orthodozie des 17. Jahrhunderts überdauert. Aber auch im Schoße der unierten
Kirche Altpreußens selbst stießen die unionistischen Bestrebungen der folgenden Jahr-
zehnte, wiewohl von hervorragenden und zahlreichen Theologen und Kirchenmännern
getragen, auf einen hartnäckigen Widerstand, der zwar die Einigung der Konfessionen nicht
rückgängig zu machen vermochte, wohl aber zu einer Organisation der Lutheraner
innerhalb der Union führte (Vereinslutheraner, 1849) welche in der konfessionellen
Gruppe der Generalssynode über der relativen Selbständigkeit der lutherischen Gemein-
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