Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
12 Die evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch. 
  
den innerhalb der unierten Landeskirche wacht. In einigen nichtpreußischen Landes- 
kirchen aber erstarkte unter der Führung bedeutender und zielbewußter Führer das 
konfessionelle Bewußtsein derartig, daß die Union nicht einmal auf die neugewonnenen 
Provinzen ausgedehnt werden konnte. Damals führte die freilich unbegründete Furcht 
für die kirchliche Selbständigkeit der annektierten Länder zur Gründung der Allgemeinen 
Evangelisch-lutherischen Konferenz und ihres Organs, der Allg. Ev.-Luth. (Luthardtschen) 
Kirchenzeitung. Sie bildete bis zum Ende des Zahrhunderts den Sammelpunkt der anti- 
unionistischen Bestrebungen des kirchlichen Luthertums. Zhr anfänglicher scharfer Gegensatz 
gegen die Union milderte sich jedoch, nachdem der konföderative Charakter derselben immer 
deutlicher wurde, mehr und mehr ab. In demselben Maße sank freilich auch die Bedeu- 
tung und die Anziehungskraft der Konferenz. DOie jetzige „Allgemeine Evangelisch- 
Lutherische Konferenz“, seit Anfang des Jahrhunderts neu organisiert, hat auch Ver- 
treter des außerdeutschen, namentlich des nordischen Luthertums, sowie auch die Luthe- 
raner innerhalb der Union in sich aufgenommen. Ihr Programm ist nicht mehr kirchen- 
politischer Art, sondern erstrebt eine freie Zusammenfassung des Luthertums überhaupt. 
Auf ihren imposanten Tagungen, von denen zwei in Schweden gehalten sind, werden 
bedeutsame Fragen des kirchlichen Lebens unserer Zeit unter die Beleuchtung des luthe- 
rischen Bekenntnisses gestellt. Ein universalistischer Zug ging bisher durch ihre Verhand- 
lungen. Dagegen hat sich das immer mehr zusammenschrumpfende ekklusive Luther- 
tum von der Konferenz getrennt und im „Lutherischen Bunde"“ eine Sonderorganisation 
zur weiteren Bekämpfung der Union als des „Grundübels“ aller kirchlichen Schäden 
unserer Zeit gegründet. 
So hat sich in hundert Jahren heftigen konfessionellen Kampfes gegen den „Unions- 
gedanken“ der Gegensatz gegen denselben ganz erheblich abgeschwächt. Die Gründe 
dafür sind verschiedener Art. Einer ist schon erwähnt. Die Entwicklung der preußischen 
Landeskirche hat bewiesen, daß die Union keinen absorptiven, sondern konföderativen 
Charakter trägt und tragen wird. 
Die preußische Kirchenpolitik bedeutet nicht eine 
„dauernde Gefahr"“ für die Selbständigkeit der 
lutherischen Kirchen und ihren Bekenntnisstand. 
Es bestehen in Preußen keinerlei Tendenzen zu mehr oder weniger unfreiwilliger 
Unionisierung der evangelischen Landeskirchen oder gar zu einer planmäßigen Ourch-- 
führung der hochpolitischen Konstruktion der „Nationalkirche“. Man hat auf konfes- 
sioneller Seite zweifellos sehr oft Gespenster gesehen, und was dabei in erster Linie 
mitwirkte, waren politische Animositäten. Gewiß — und ich füge hinzu: Gott sei Dank 
— lebt in der preußischen Kirchenpolitik ein Einigungsgedanke. Aber er bezweckt 
keineswegs irgendwelche Beeinträchtigung vorhandener kirchlicher Rechtsbeständigkeit. 
Auch drückt er sich nicht in irgend welchen kirchenpolitischen Machinationen aus. 
Er arbeitet vielmehr in lopalster und offenster Weise an der Herbeiführung eines 
freiwilligen, das Sonderbekenntnis nicht berührenden, in die Selbständigkeit der 
Landeskirchen nicht eingreifenden, engeren Zusammenschlusses der evange- 
Derneue Einigungsgedanke in 
der preußischen Kirchenpolitik. 
  
  
980
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.