Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Thecologie. 17 
  
Man setzte sich in diesen Kreisen doch allzu leicht über die veränderte kulturelle und 
geistige Lage hinweg, ignorierte die neuen Zdeen und Probleme in Praxis und Wissenschaft, 
welche das 18. Jahrhundert bem 19. überliefert, deren tiefste Interpreten unsere Klassiker 
und idealistischen Philosophen, Männer wie Kant, Schleiermacher, Hegel u. a. waren, 
und knüpfte viel zu unmittelbar wieder an das Kirchentum des 17. Jahrhunderts an. 
Das zeigt sich vor allem an der Stellung zu den Bekenntuissen und der altorthodoxen 
Theologie. Hier kam man gerade an den entscheidenden Punkten im wesentlichen nicht 
über eine Repristination des Alten hinaus. 
Darum vermochte die kirchliche Restauration trotz aller ihrer 
äußeren und inneren Mittel den geistigen, vor allem den wissen- 
schaftlichen Ansprüchen und Bedürfnissen des Zahrhunderts nicht zu genügen. 
Sie empfand die sich immer mehr häufenden und komplizierenden intellektuellen 
und überhaupt kulturellen Lebensfragen der Zeit überhaupt nicht, oder beurteilte 
sie als „aus dem Geiste des Unglaubens“ entsprungen. Man glaubte tatsächlich, 
die grundlegend neuen Aufgaben, die Kant der Wissenschaft, Schleiermacher der 
Tpeologie und Hegel dem Kulturleben überhaupt gestellt hatten, für die Kirche und ihr 
geistiges Leben beiseite schieben zu dürfen. Man blieb bei dem alten Fntellektualis- 
mus, der alten Apologetik, dem alten Supranaturalismus, der alten Geschichtsbetrachtung 
mit ihrer Verbalinspirationstheorie, und man verwiee die bistorische Kritik von dem 
Heiligtum der Theologie. Man war mit einem Worte wissenschaftlich, theologisch nicht 
auf der Höhe der Zeit. 
Die Folgen. 
  
Fehler der Orthodozie. Der Geist, der dem widersprach, war keineswegs 
ohne weiteres der Geist des Unglaubens, sondern 
zunächst der unterdrückte Geist der Wissenschaft. Es ist von jeher einer der ver- 
bängnisvollsten Fehler der Orthodozie gewesen, daß sie zwischen diesem und 
jenem nicht zu unterscheiden vermochte. Wir sind es der Gerechtigkeit schuldig, zu 
bekennen, daß der Geist, dem in mehr oder weniger direktem Gegensatz gegen die Ortho- 
doxie die sogenannte liberale Theologie in ihren verschiedenen Richtungen entstammte, 
nicht an sich ein antichristlicher und antikirchlicher war, sondern der Geist wissenschaft- 
licher Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit. Den Theologen des 19. Jahrhunderts soll man 
erst noch suchen, dem man vorwerfen könnte, er sei darauf ausgegangen, das Christen- 
tum zu zerstören. Der einzige David Fr. Strauß war, als er sich dahin verirrte, kein Theo- 
loge mehr. 
  
Der Liberalismus wollte ein 
wissenschaftlich geläutertes und kri- 
tisch gereinigtes Christentum, aber er wollte eben doch Christentum; und er wollte eine 
mit der Kultur der Zeit und ihren Lebenswerten in Einklang gebrachte Kirche, aber eben 
doch eine Kirche. Er wollte auf Grund der neuen Bildungselemente und Methoden ein 
neues Gleichgewichtsverhältnis schaffen zwischen Wissenschaft und Kirche. Er suchte 
Die liberale Theologie. Grundgedanke. 
  
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