Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
20 Die evangelische Kirche und Theologie. VIII. Buch. 
  
Ist überhaupt noch etwas übrig geblieben von den reformatorischen Bekenntnissen? 
Eibt es überhaupt noch so etwas wie eine christliche Weltanschauung? Oder ist die 
christliche Religion bloß noch Gefühls- und Stimmungereligion, Gesinnung, Moystik? 
Welch ein Schwanken zwischen Mystizismus und Moralismus! Man fragt sich weiter: 
Kann die Volkskirche überhaupt auf die Dauer auf diesem schwankenden Boden 
bestehen? Ohne jeden gemeinsamen Wahrheitsbesitz, ja bei diametral entgegengesetzten 
Standpunkten? Man sieht ein Reich, das mit sich selbst uneins ist, zerfallen. Manche 
sprechen schon nicht mehr von verschiedenen theologischen Richtungen oder kirchlichen 
Parteien, sondern von verschiedenen Religionen innerhalb der Kirche. Auf der 
äußersten Rechten berührt man sich mit dem römischen Katholizismus, auf der äußersten 
Linken mit dem Moniemus. Ist da noch irgendwelche Gemeinschaft möglich? Kann man 
überhaupt Anschauungen, wie sie ein Jatho, ein Traub, ein Kalthoff u. a. vertreten, 
überhaupt noch „Christentum“ nennen? Vicht selten hörte man von dem „Atheismus“ 
in der Kirche reden. Dabei besteht doch das Bekenntnis zu Necht, und die Bekenntniever- 
pflichtung ist in Ubung. Man ruft aus: welch einer Unwahrhaftigkeit macht sich die Kirche 
schuldig, die ja und nein aus einem Munde anerkennt, legitimiert. Wo bleibt da die 
gläubige Gemeinde, auf deren Seite doch das sachliche und formale Recht ist. Sie wird 
mißhandelt. Ihr wird ihr Recht vorenthalten. Sie kann das unverfälschte Evangelium ver- 
langen. — Darüber kann jedenfalls kein Zweifel bestehen, daß von unbegrenzter Lehr- 
freiheit in der Kirche nicht die Rede sein kann, und daß ein bestimmtes Maß grundsätz- 
lichen gemeinsamen Wahrheitsbesitzes unentbehrliche Voraussetzung der kirchlichen Ge- 
meinschaft ist Die Frage, ob nicht jetzt schon, und zwar womöglich definitiv, die äußerste 
EGrenze dessen, was an Oissensus erträglich ist, überschritten, und damit die kirchliche Ein- 
beit innerlich schon aufgelöst ist, bewegt nicht bloß die Freunde der Bekenntniskirche im 
überlieferten Sinne. 
Kirchliche Parteikämpfe. Andererseits lähmen die den ganzen Kirchenkörper 
durchwühlenden und erschütternden Parteikämpfe, 
welche die unvermeidlichen Folgeerscheinungen der Krisis bilden, das Leben und die 
Aktionsfähigkeit der Kirche auf allen Gebieten. Es gibt kaum eine in VBerbindung 
mit der Kirche stehende Erscheinung, welche demoralisierender und diskreditierender in 
den Gemeinden und überhaupt in der öffentlichen Meinung gewirkt hätte und noch 
wirkte, als der kirchenpolitische Parteikampf, der seit geraumer Zeit durch das ganze Ge- 
biet der Evangelischen Kirche tobt und alle Leidenschaften rege macht. Welchen Eindruck 
muß auf die Dauer eine Kampfesweise auf unsere Gemeinde ausüben, bei der unaufhör-- 
lich im Namen des Evangeliums, der Wahrheit, des Glaubens, ja Gottes die einfachsten 
Gebote des Anstandes, der guten Sitte und der christlichen Ethik verletzt werden, geschweige 
die Liebe, die ein Paulus über Glaube und Hoffnung stellt. Zahllose Gemeindeglieder 
welchen die Dinge, um welche gestritten wird, ferne liegen, aber die häßlichen Begleit- 
erscheinungen des Streites in die Augen fallen, wenden sich, angewidert, von diesem 
„Pastorengezänk“ und oft genug auch von der Kirche selbst ab. Andere, die in streng- 
gläubigen Anschauungen aufgewachsen sind, folgen in dem Glauben, ihre heiligste Pflicht 
  
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